Erzählungen
bestehen. Es war natürlich nicht nur kindli-
cher Trotz und das in der letzten Zeit so unerwartet und
schwer erworbene Selbstvertrauen, das sie zu dieser Forde-
40
rung bestimmte; sie hatte doch auch tatsächlich beobachtet,
daß Gregor viel Raum zum Kriechen brauchte, dagegen die
_________________________________________________________________
Franz Kafka: Erzählungen
- 30 -
Möbel, soweit man sehen konnte, nicht im geringsten benütz-
te.
Vielleicht aber spielte auch der schwärmerische Sinn der
Mädchen ihres Alters mit, der bei jeder Gelegenheit seine Be-
5
friedigung sucht, und durch den Grete jetzt sich dazu verlo-
cken ließ, die Lage Gregors noch schreckenerregender machen
zu wollen, um dann noch mehr als bis jetzt für ihn leisten zu
können. Denn in einen Raum, in dem Gregor ganz allein die
leeren Wände beherrschte, würde wohl kein Mensch außer
10
Grete jemals einzutreten sich getrauen. Und so ließ sie sich
von ihrem Entschlusse durch die Mutter nicht abbringen, die
auch in diesem Zimmer vor lauter Unruhe unsicher schien,
bald verstummte und der Schwester nach Kräften beim Hin-
ausschaffen des Kastens half. Nun, den Kasten konnte Gregor
15
im Notfall noch entbehren, aber schon der Schreibtisch mußte
bleiben. Und kaum hatten die Frauen mit dem Kasten, an den
sie sich ächzend drückten, das Zimmer verlassen, als Gregor
den Kopf unter dem Kanapee hervorstieß, um zu sehen, wie er
vorsichtig und möglichst rücksichtsvoll eingreifen könnte. Aber
20
zum Unglück war es gerade die Mutter, welche zuerst zurück-
kehrte, während Grete im Nebenzimmer den Kasten umfangen
hielt und ihn allein hin und her schwang, ohne ihn natürlich
von der Stelle zu bringen. Die Mutter aber war Gregors Anblick
nicht gewöhnt, er hätte sie krank machen können, und so eilte
25
Gregor erschrocken im Rückwärtslauf bis an das andere Ende
des Kanapees, konnte es aber nicht mehr verhindern, daß das
Leintuch vorne ein wenig sich bewegte. Das genügte, um die
Mutter aufmerksam zu machen. Sie stockte, stand einen Au-
genblick still und ging dann zu Grete zurück.
30
Trotzdem sich Gregor immer wieder sagte, daß ja nichts
Außergewöhnliches geschehe, sondern nur ein paar Möbel
umgestellt würden, wirkte doch, wie er sich bald eingestehen
mußte, dieses Hin- und Hergehen der Frauen, ihre kleinen
Zurufe, das Kratzen der Möbel auf dem Boden, wie ein großer,
35
von allen Seiten genährter Trubel auf ihn, und er mußte sich,
so fest er Kopf und Beine an sich zog und den Leib bis an den
Boden drückte, unweigerlich sagen, daß er das Ganze nicht
lange aushalten werde. Sie räumten ihm sein Zimmer aus;
nahmen ihm alles, was ihm lieb war; den Kasten, in dem die
40
Laubsäge und andere Werkzeuge lagen, hatten sie schon hi-
nausgetragen; lockerten jetzt den schon im Boden fest einge-
_________________________________________________________________
Franz Kafka: Erzählungen
- 31 -
grabenen Schreibtisch, an dem er als Handelsakademiker, als
Bürgerschüler, ja sogar schon als Volksschüler seine Aufgaben
geschrieben hatte, - da hatte er wirklich keine Zeit mehr, die
guten Absichten zu prüfen, welche die zwei Frauen hatten,
5
deren Existenz er übrigens fast vergessen hatte, denn vor
Erschöpfung arbeiteten sie schon stumm, und man hörte nur
das schwere Tappen ihrer Füße.
Und so brach er denn hervor - die Frauen stützten sich ge-
rade im Nebenzimmer an den Schreibtisch, um ein wenig zu
10
verschnaufen - , wechselte viermal die Richtung des Laufes, er
wußte wirklich nicht, was er zuerst retten sollte, da sah er an
der im übrigen schon leeren Wand auffallend das Bild der in
lauter Pelzwerk gekleideten Dame hängen, kroch eilends hin-
auf und preßte sich an das Glas, das ihn festhielt und seinem
15
heißen Bauch wohltat. Dieses Bild wenigstens, das Gregor jetzt
ganz verdeckte, würde nun gewiß niemand wegnehmen. Er
verdrehte den Kopf nach der Tür des Wohnzimmers, um die
Frauen bei ihrer Rückkehr zu beobachten.
Sie hatten sich nicht viel Ruhe gegönnt und kamen schon
20
wieder; Grete hatte den Arm um die Mutter gelegt und trug sie
fast. "Also was nehmen wir jetzt?", sagte Grete und sah sich um. Da kreuzten sich ihre Blicke mit denen Gregors an der
Wand. Wohl nur infolge der Gegenwart der Mutter behielt sie
ihre Fassung, beugte ihr Gesicht zur Mutter, um diese vom
25
Herumschauen abzuhalten, und sagte, allerdings zitternd
Weitere Kostenlose Bücher