Erzählungen
über die Grenze, Sie haben wohl seine Identität noch nicht festgestellt?... Vorläufig noch nicht? Nun, ich warte vertrauensvoll auf Ihre Feststellungen. Auf alle Fälle, ich habe ihn nicht gekannt, auch später nicht, als ich seine Leiche sah.
Warum ich das betone? Aber ich bitte Sie, Herr Untersuchungsrichter, ich betone gar nichts. Ihr Ohr ist durch Misstrauen geschärft. Wenn man angeklagt wird, benützt man doch jede Gelegenheit zur Verteidigung. Nicht wahr? Meine Frau steigt aus, wir nehmen zärtlich Abschied voneinander; es kommt ja selten vor, dass ich allein verreise, gewöhnlich nehme ich sie mit. Aber nun hatte unser Lovis gerade eine Mandelentzündung, und meine Frau war ängstlich, wie eben Frauen immer ängstlich sind, und wollte das Kind nicht alleine lassen. Ja, wir Ehemänner, wir müssen immer vor den Kindern zurücktreten, der mütterliche Instinkt... Aber ich schweife ab.
Der Zug fährt schon an, ich stehe am Fenster und winke meiner Frau, da wird hinter mir die Türe aufgerissen, und eine alte Frau stürzt herein. Man sah sofort, dass sie nicht in die zweite Klasse passte; und denken Sie, bevor sie eintritt, zieht sie hinter ihrem Rock zwei Buben hervor, der eine zwei-, der andere dreijährig, schätze ich. Hinter diesemKleeblatt wird der Kondukteur sichtbar, will die Frau aus dem Coupé zerren, ich lasse es nicht zu, winke ab. Denn ich denke, die alte Dame (und wenn ich Dame sage, so ist das ein Euphemismus, es war eine bessere Arbeitersfrau, eine Poliersgattin vielleicht, die wahrscheinlich mit ihren Enkeln nach Italien fahren wollte) hat sich das Geld für die Reise zweiter Klasse mühsam zusammengekratzt. Ich winke also in meiner Gutmütigkeit dem Kondukteur ab und denke sogleich an den Herrn, den ich hinter seiner Zeitung versteckt erblickt habe. Wir zwei Männer, denke ich, werden wohl miteinander auskommen. Ich packe also meinen Koffer und verziehe mich. Denn mit Kindern eine Nachtfahrt durchzumachen, das wird mir wohl niemand zumuten wollen.
Ich begebe mich also zu dem Zeitungsherrn. Wenn ich jetzt daran denke, ich wollte, ich hätte die Nachtfahrt mit den Kindern auf mich genommen. Dann sässe ich nicht hier. Aber ich bin sicher, dies wird sich alles aufklären, und ich werde hocherhobenen Hauptes dies Untersuchungszimmer verlassen, nicht wahr, Herr Untersuchungsrichter? Der Zeitungsherr, ich weiss nicht, wie ich ihn anders nennen soll, der Zeitungsherr also bleibt hinter seinem Blatte verborgen. Wenn es Sie übrigens interessiert, es war der »Temps«, den er las. Ein praktisches, grosses Blatt, wie gemacht, um sich zu verbergen.
Der Zeitungsmann sitzt also auf dem Fensterplatz in der Fahrtrichtung, er blickt nicht auf, als ich das Coupé betrete, er blickt nicht auf, als ich über seine Füsse stolpere und mich entschuldige. Er brummt nur etwas Unverständliches. Ich verstaue meinen Koffer oben im Netz, setze mich nieder, denke noch: »Nun muss ich nach rückwärts fahren, das tut mir nie gut, ich bekomme dann Schwindelanfälle. Aber in diesem Falle schadet es wohl nichts, denn ich kann mich ja ausstrecken, das Gesicht zur Wand kehren, dann liege ich ja eigentlich in der Fahrtrichtung, und alles geht in Ordnung.« Sie sehen, wie gut ich mich noch an meine Gedanken erinnere, und da soll ich mich in einerderart wichtigen Sache, wie diese Anklage ist, täuschen? Ich, ein Geschäftsmann, der bekannt ist für sein gutes Gedächtnis –; ich habe ein ganz bestimmtes mnemotechnisches System, doch ist jetzt wohl nicht die Zeit, Ihnen dieses auseinanderzusetzen...
Ausgezeichnet dieser Wein... Verzeihen Sie, Sie haben eine Frage gestellt, ich habe nicht aufgepasst... Aber nein, Herr Untersuchungsrichter, Sie müssen von den Menschen nicht immer das Schlechteste denken, nein, durchaus nicht, ich bitte Sie nicht, die Frage zu wiederholen, um Zeit zum Nachdenken herauszuschlagen... Aber wenn man, wie ich, fast sechs Stunden lang verhört worden ist, und wie verhört!, so müssen Sie begreifen, dass das Gehirn abgespannt ist, es reagiert nicht mehr so prompt wie sonst.
Sie wollen wissen, ob der Herr Gepäck hatte? Warten Sie, hier drin ist alles eingraviert, eingeätzt muss ich fast sagen... Aber Sie wissen ja, wie es einem geht, wenn Sie meinen, einen Stich ganz genau zu kennen, und Sie sehen ihn ein zweites Mal an, so erscheint er Ihnen vollkommen neu, gewisse Details, gewisse Feinheiten treten plötzlich hervor, die Sie zuerst gar nicht bemerkt hatten... Das hat nichts mit Ihrer Frage zu
Weitere Kostenlose Bücher