Es begann in einer Winternacht
haben könnte, wenn Sie eine Mutter gehabt hätten?“
„Nein.“
„Ich schon. Ich frage mich häufig, welche Ratschläge sie mir wohl gegeben hätte.“
„Da Ihre Mutter als Ehefrau eines Grobians wie Ivo Jenner endete“, antwortete St. Vincent sarkastisch, „würde ich mich nicht zu sehr auf ihren Rat verlassen.“ Es folgte eine nachdenkliche Pause. „Wie haben sie sich nur kennengelernt? Es kommt nicht häufig vor, dass Mädchen aus guter Familie auf Männer von Jenners Art treffen.“
„Das stimmt. Meine Mutter fuhr mit meiner Tante in einer Kutsche spazieren. Es war einer dieser Wintertage, wo der Londoner Nebel mittags so dicht ist, dass man kaum ein paar Fuß weit sehen kann. Die Kutsche musste unvermutet dem Karren eines Straßenverkäufers ausweichen und stieß meinen Vater um, der zufällig in der Nähe auf der Straße stand.
Meine Mutter bestand darauf, anzuhalten und sich zu erkundigen, wie es ihm ging. Er hatte nur ein paar blaue Flecke, nichts weiter. Und ich vermute … ich vermute, mein Vater muss ihr Interesse geweckt haben, denn sie schickte ihm am nächsten Tag einen Brief, um nachzufragen, wie es ihm ginge. Sie begannen eine Korrespondenz.
Mein Vater ließ seine Briefe von jemand anderem schreiben, er war Analphabet. Die weiteren Details sind mir unbekannt. Ich weiß nur, dass sie schließlich durchbrannten.“ Ein zufriedenes Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie sich die Wut der Maybricks vorstellte, nachdem sie herausgefunden hatten, dass ihre Mutter mit Ivo Jenner weggelaufen war. „Sie war neunzehn, als sie starb“, sagte sie nachdenklich. „Und ich bin dreiundzwanzig. Es scheint seltsam, dass ich schon länger lebe, als sie es getan hat.“ Sie drehte sich in Sebastians Armen und sah hoch zu ihm. „Wie alt sind Sie, Mylord? Vierunddreißig? Fünfunddreißig?“
„Zweiunddreißig. Aber im Moment fühle ich mich eher wie hundert.“ Er betrachtete sie aufmerksam. „Was ist mit dem Stottern passiert, Kindchen? Irgendwo zwischen hier und Teesdale ist es verschwunden.“
„Tatsächlich?“, fragte Evie mit leichtem Erstaunen. „Ich denke … dass ich Ihre Gesellschaft angenehm finde. Bei bestimmten Leuten stottere ich weniger.“ Wie seltsam – ihr“Stottern verschwand sonst nie so vollkommen wie jetzt, außer, sie sprach mit Kindern.
Seine Brust bewegte sich unter ihrem Ohr in einem amüsierten Ausatmen. „Das ist das erste Mal, dass mich jemand als angenehm beschreibt. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Ich werde bald etwas Diabolisches tun müssen, um diesen Eindruck zu korrigieren.“
„Das werden Sie ohne Zweifel.“ Sie schloss ihre Augen und lehnte sich schwerer an ihn. „Ich glaube, ich bin zu müde, um zu stottern.“
Seine Hand bewegte sich zu ihrem Kopf und streichelte über ihr Haar und die Seite ihres Gesichts. Seine Fingerspitzen massierten ihr die Schläfen. „Schlafen Sie“, flüsterte er. „Wir sind beinahe da. Wenn Sie schon auf dem Weg in die Hölle sind, meine Liebe, sollte Ihnen immerhin bald wärmer werden.“
Wurde es aber nicht. Je weiter sie nach Norden kamen, desto kälter wurde es, bis Evie schlecht gelaunt feststellte, dass ihr ein wenig teuflischer Schwefel oder Höllenbrei sehr willkommen wäre.
Das Dorf Gretna Green lag in der Grafschaft Dumfriesshire, gleich nördlich der Grenze zwischen England und Schottland. Auf der Flucht vor den strengen englischen Ehegesetzen waren Hunderte von Paaren die Straße von London durch Carlisle nach Gretna Green gereist. Sie kamen zu Fuß, zu Pferd oder in der Kutsche, auf der Suche nach einem Asyl, wo sie ihr Ehegelübde ablegen und als Mann und Frau nach England zurückkehren konnten.
Nachdem ein Paar die Brücke über den Fluss Sark überquert hatte und in Schottland angekommen war, konnte es überall im Land verheiratet werden. Eine Erklärung vor Zeugen war alles, was nötig war. In Gretna Green hatte sich daher ein florierendes Hochzeitsgeschäft entwickelt. Die Einwohner standen in heftiger Konkurrenz zueinander, die Hochzeiten in Privathäusern, Gasthäusern oder sogar unter freiem Himmel abzuhalten. Der berühmteste – und berüchtigtste – Ort war jedoch die Schmiede, wo so viele übereilte Hochzeiten stattgefunden hatten, dass jede in Gretna Green stattfindende Eheschließung von der feinen Londoner Gesellschaft als „Ambosshochzeit“ bezeichnet wurde.
Endlich erreichte St. Vincents Kutsche ihr Ziel, einen neben der Schmiede situierten Gasthof. St. Vincent schien
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