Es begann in einer Winternacht
den Gelegenheiten, wo sie ihren Vater für einen Tag besuchen durfte. Es war ein gut ausgestatteter, wenn auch etwas üppig eingerichteter Ort gewesen, und es hatte ihr Freude gemacht, auf der Galerie im ersten Stock zu stehen und dem Geschehen im Hauptraum unter ihr zuzusehen. Mit einem nachsichtigen Grinsen im Gesicht war Jenner mit ihr zur St. James’s Street spaziert und in jeden Laden gegangen, den sie aufsuchen wollte. Sie besuchten den Parfumeur, den Hutmacher, die Buchhändler und Drucker und die Brot- und Keksbäcker, die Evie heiße, süße Hefebrötchen gaben, die so frisch waren, dass die weiße Glasur noch halb schmelzend über ihre Oberfläche lief.
Während die Jahre vergingen, waren Evies Besuche in der King Street deutlich eingeschränkt worden. Auch wenn sie immer den Maybricks die Schuld dafür gegeben hatte, war ihr nun klar, dass zum Teil auch ihr Vater dafür verantwortlich war. Es war viel einfacher für Jenner gewesen, sie als Kind zu lieben, als er sie zum Lachen bringen konnte, indem er sie in die Luft warf und in seinen kräftigen Armen wieder auffing. Er konnte ihr rotes Haar, von derselben Farbe wie sein eigenes, zausen und ihre Tränen, wenn sie ihn verlassen musste, durch einen Bonbon oder einen Shilling trocknen. Aber als sie eine junge Frau wurde und er sie nicht mehr wie ein kleines Mädchen behandeln konnte, war ihre Beziehung schwieriger geworden und hatte an Nähe verloren. „Dieser Club ist kein guter Ort für dich, Kleines“, hatte er ihr in seiner unumwundenen Art gesagt. „Du musst dich von so groben Kerlen wie mir fernhalten und einen reichen Mann finden, den du heiraten kannst.“
„Papa“, hatte sie mit einem verzweifelten Stottern gebettelt, „sch-schick mich nicht zu denen zurück. B-bitte, bitte lass mich bei dir bleiben.“
„Kleine Stotterliese, du gehörst zu den Maybricks. Und es hat keinen Zweck, auszureißen und wieder hierherzukommen. Ich würde dich nur wieder zurückschicken.“
All ihre Tränen hatten ihn nicht umstimmen können. In den folgenden Jahren waren Evies Besuche im Club ihres Vaters auf ein Mal alle sechs Monate oder sogar noch seitener zusammengeschrumpft. Ob es zu ihrem eigenen Besten oder nicht war, das Gefühl nicht gewollt zu werden, war ihr tief in die Knochen gebrannt. Sie war so unsicher gegenüber Männern geworden, so überzeugt, sie nur zu langweilen, dass ihre schlimmsten Befürchtungen prompt erfüllt wurden. Ihr Stottern war schlimmer geworden. Je mehr sie darum kämpfte, die Worte herauszubekommen, desto unzusammenhängender waren ihre Sätze geworden, bis es am einfachsten war, still zu sein und möglichst mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Schon bald war sie eine Expertin im Mauerblümchensein. Sie war nie um einen Tanz gebeten, nie geküsst, nie geneckt oder umworben worden. Der einzige Antrag, den sie je erhalten hatte, war der sehr widerwillige ihres Cousins Eustace gewesen.
Evie staunte noch immer, welche andere Wendung ihr Leben genommen hatte. Sie warf einen schnellen Blick zu ihrem Ehemann hinüber, der die letzten zwei Stunden still vor sich hingebrütet hatte. Seine Augen wurden schmal, als er ihren Blick erwiderte. Mit seinem kalten Gesichtsausdruck und seinem zynischen Mund schien er nichts mit dem verführerischen Schurken gemeinsam zu haben, der vor zwei Tagen das Bett mit ihr geteilt hatte.
Sie drehte sich zum Fenster und beobachtete, wie die Straßen Londons an ihnen vorbeizogen. Schon bald würden sie den Club erreichen, und sie würde ihren Vater sehen. Es war sechs Monate her, dass sie das letzte Mal beisammen gewesen waren, und Evie wappnete sich innerlich. Schwindsucht war eine häufige Krankheit, und jeder war sich ihrer Verwüstungen bewusst: Ihr Vater würde nicht mehr derselbe sein.
Denn Schwindsucht bedeutete das langsame Absterben des Lungengewebes, begleitet von Fieber, Husten, Gewichtsverlust und schrecklichen nächtlichen Schwitzattacken. Wenn der Tod kam, wurde er meist vom Opfer und allen, die sich um ihn kümmerten, als Ende für das schreckliche Leiden herbeigesehnt. Evie konnte sich nicht vorstellen, ihren kräftigen Vater in so einem Zustand zu erleben. Sie hatte mindestens so viel Angst, ihn zu sehen, wie sie sich danach sehnte, sich um ihn zu kümmern. All dies behielt sie jedoch für sich, da sie vermutete, dass Sebastian sich nur über sie lustig machen würde, wenn sie ihm von ihren Ängsten erzählte.
Ihr Puls schlug schneller, als die Kutsche die St. James’s Street
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