Es gibt kein nächstes Mal
daß
Estella ausgerechnet in Notting Hill gewohnt hatte. Sie kannte diese Straße.
Von dort, wo sie jetzt lebte, waren es keine fünf Minuten zu Fuß entfernt.
Ralph kam mit zwei Styroporbechern Kaffee in den
Waggon gestiegen. Er lächelte sie an.
»Ich dachte schon, du würdest den Zug
verpassen«, sagte sie, als der Pfiff ertönte und sie aus dem Bahnhof
hinausfuhren.
»Irgend etwas Interessantes?« Ralph wies mit einer
Kopfbewegung auf den Schuhkarton.
»Das sind die Briefe, die meine Mutter an
Shirley geschrieben hat«, sagte Gemma. »Ich finde, ich sollte sie mit Daisy
gemeinsam lesen, aber ich konnte es nicht lassen, einen Blick hineinzuwerfen.
Shirley hat mir das große Geheimnis erzählt, das sie ihr Leben lang gehütet
haben. Estella ist mit ihrem Kunstlehrer ausgerissen, als sie siebzehn war. In
dem Städtchen hat das einen gewaltigen Skandal ausgelöst. Sie ist nie mehr
zurückgekommen, aber sie hat Shirley geschrieben, und aus irgendwelchen Gründen
wollte Shirley uns die Briefe jetzt überlassen...«
»Vielleicht hat Shirley das Gefühl, sie würde
allmählich zu alt für Geheimnisse. Sie scheint eine recht freimütige Person zu
sein.«
»Ja, vielleicht«, sagte Gemma mit einem Anflug
von Traurigkeit. »Sie ist nett, findest du nicht auch?«
»Sie ist eine ganz reizende alte Dame«, sagte
Ralph. »Vielleicht gewöhnt sie sich gewisse Verrücktheiten an, aber sie ist
ganz reizend...«
»Warum sagst du das?«
»Als ich ins Bad gehen wollte, habe ich
versehentlich zuerst die falsche Tür geöffnet... es muß die Tür zu ihrem
Schlafzimmer gewesen sein. Dort hat ein Puppenhaus mit aufgeklappten Flügeln
gestanden. Es hat den Eindruck erweckt, als hätte noch vor kurzem jemand damit
gespielt...«
»Wirklich? Wie niedlich! Ich finde das gar nicht
verrückt«, protestierte Gemma. »Ich liebe Puppenhäuser... warum sollte sie
nicht auch etwas dafür übrig haben?« fügte sie verteidigend hinzu.
»Ja, warum eigentlich nicht? Hat Shirley Kinder
gehabt?«
»Nein, keine. Ach so, ich verstehe. Du glaubst,
die Puppen sind für sie der Ersatz für die Familie, die sie nie gehabt hat...
Man kann sich doch immer wieder darauf verlassen, daß ein Amerikaner für alles
eine psychologische Erklärung findet«, neckte ihn Gemma. »Es ist wirklich ein
Jammer, denn ich glaube, sie hätte liebend gern Kinder gehabt.«
»Offenbar liegst du ihr sehr am Herzen.«
Gemma lächelte.
»Ich kann dir versichern, daß sie mich eingehend
gemustert hat«, fügte Ralph hinzu.
»Ich glaube allerdings, daß du den Test
bestanden hast.« Gemma streckte einen Arm über den Tisch und nahm seine Hand.
Mai 1951
Liebe Shirl,
heute, an Deinem Hochzeitstag, habe ich an Dich
gedacht, und ich hoffe für Dich, daß Du einen schönen Tag gehabt hast (und eine
schöne Nacht! Jetzt kannst Du es mir ehrlich sagen, Shirl — war es für euch
wirklich das erste Mal?).
Ich weiß nicht, ob ich gern verheiratet wäre
oder lieber doch nickt. Laurie sagt, heiraten sei äußerst bourgeois (so
buchstabiert man das, glaube ich). Ich wünschte nur, er würde sich entscheiden,
ob ich mich als seine Ehefrau ausgeben soll oder nicht. Vor ein paar Tagen
haben wir Freunde von ihm besucht, die auf einer Art Farm leben und Töpfe
herstellen (entschuldige, aber die korrekte Bezeichnung ist: töpfern, wie wir
laufend vorgehalten wird — manchmal
komme ich mir vor, als lebte ich mit einem Lehrer zusammen — ha, ha!).
Sie haben mich gefragt, wie lange ich Laurie
schon kenne, und ich habe losgelegt und ihnen erzählt, daß wir verheiratet
sind, genauso, wie wir es abgemacht hatten, und Laurie hat mir das Wort
abgeschnitten und gesagt: Sei nicht so blöd, Stella, und ich habe mich wirklich
runtergeputzt gefühlt. Dann haben wir einen Spaziergang unternommen, und ich
war sauer auf ihn, weil ich von ihm erwarte, daß er mich Estella nennt. Er hält
das für einen Witz. Ich weiß selbst nicht, wie er das anstellt, Shirl, aber er
bringt es fertig, hinter diesem »E« ein Lachen in seine Stimme einzubauen.
Jedenfalls haben wir uns geküßt und uns wieder ausgesöhnt. Laurie kann mich
immer wieder zum Lachen bringen, Shirl, und ich glaube, das ist wichtiger als
alles andere.
Ich bin mit dieser Dame ins Gespräch gekommen,
deren Farm es war, Georgina hat sie sich genannt, und sie hat mir erzählt, daß
auch sie nicht mit Jack verheiratet ist, mit dem sie zusammenlebt. Sie war sehr
nett, und ich hoffe, daß wir bald wieder hinfahren und die beiden besuchen.
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