Es wird Dich rufen (German Edition)
ob dies alles einfach viel zu viel für ihn gewesen war.
Es hatte wahrlich keinen Sinn, so weiterzumachen, wenn er nicht zuletzt noch verrückt und ein Fall für die Psychiatrie werden wollte.
Statt vor dem Scherbenhaufen seines Privatlebens wegzurennen, musste er sich diesem endlich stellen, sich mit ihm auseinandersetzen. Allerdings nicht hier, nicht in Frankfurt. Ein Tapetenwechsel musste dringend her, befand Mike. Ein paar Tage ausspannen. Irgendwo. Nur möglichst weit weg von seinem täglichen Umfeld.
Walter Stein, dessen war er sich absolut sicher, würde seiner Bitte um Urlaub entsprechen, sollte er infolge dieser dummen Geschichte nicht sowieso fristlos gekündigt werden. Die Umstände erlaubten eine solche Maßnahme. Außerdem, so überlegte sich Mike, war der Chefredakteur sicher ganz froh, wenn derjenige, der den Skandal angezettelt hatte, so lange von der Bildfläche verschwunden bliebe, bis eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages wieder genügend Gras darüber gewachsen war.
Sorgfältig verstaute Mike einige Papiere in seinem Aktenkoffer, dann rief er seine Sekretärin zu sich, um sich von ihr zu verabschieden.
»Ich muss ein paar Tage wegfahren«, erklärte er ihr, kaum hatte sie den Raum betreten. »Sagen Sie bitte alle Termine ab.«
»Wegfahren?« Sonja sah ihn überrascht an. »Aber warum so plötzlich? Was ist denn passiert?«
»Nichts«, versuchte er sie zu beruhigen. »Ich brauche einfach ein bisschen Ruhe. Nichts weiter. Machen Sie sich keine Sorgen! Es ist alles in Ordnung!«
Mike verspürte keine Lust, sich auf größere Erklärungen einzulassen. Seine Sekretärin ließ allerdings nicht locker.
»Hat es etwas damit zu tun, dass Herr Stein vorhin bei Ihnen war? Ist irgendetwas passiert? Kann ich Ihnen helfen?«
Mike nahm seinen Aktenkoffer in die rechte Hand und überlegte kurz, ob er auch den Brief seiner Ex-Freundin einstecken sollte, um ihn zuhause zu lesen, doch er fühlte sich momentan zu schwach dafür.
»Nicht wirklich«, sagte er kaum hörbar »Nicht wirklich.«
Dann wandte er sich der Türe zu.
Sonjas Versuch, mit einem forschen »Aber …« vielleicht doch noch etwas mehr aus Mike herauszulocken, verpuffte. Er ließ sie ratlos mit einem müden »Bis die Tage« zurück.
2
»Café au lait ou café noire?«, erkundigte sich die Bedienung freundlich. Mike überlegte einen Moment, ehe er sich für den Milchkaffee entschied.
»Café au lait, s´il vous plaît, Madame.«
Der Journalist hatte es sich in einem der kleinen Cafés gemütlich gemacht, die sich inmitten der malerischen Altstadt von Rennes, der Hauptstadt der französischen Bretagne, finden ließen. Durch die große Fensterfront, die nach Süden hin ausgerichtet war, verfolgte er das muntere Treiben auf den Straßen, das hauptsächlich durch die zahllosen Touristengruppen geprägt war, die immer wieder stehen blieben, ehrfurchtsvoll auf eines der Gebäude starrten und andächtig den Erklärungen ihres Reiseführers lauschten.
Seit vier Tagen genoss Mike die Ruhe in der Bretagne, weit abseits vom Alltag zuhause. Dass es ihn ausgerechnet hierher verschlagen hatte, war vor allem seinem Chefredakteur zu verdanken, der offenbar das Gefühl gehabt hatte, Mike noch einen letzten Gefallen schuldig zu sein. Stein hatte ihm jedenfalls, den Wunsch des Redakteurs nach Abstand von Beruf und Privatleben begrüßend, in einem vermutlich ebenso mitleidserfüllten wie freundschaftlichen Akt angeboten, dieser könne doch sein vor einigen Jahren schon erbautes Ferienhaus am Rande der Stadt nutzen, um mit etwas Abstand von zuhause wieder zu sich selbst zu finden. Mike hatte dies ohne Zögern angenommen. Seither hatten die beiden Männer keinen Kontakt mehr zueinander gehabt. Mike schien es beinahe egal zu sein, wie sich die Affäre um den katastrophalen Artikel weiterentwickelte. Sein Fluchtinstinkt hatte eine unsichtbare Mauer um ihn aufgebaut, die ihn vor derlei Gedanken schützte.
Keine Frage: Der Tapetenwechsel tat ihm gut. Nicht eine Sekunde seiner Anwesenheit hatte er bislang bedauert. Ganz im Gegenteil. Zwar war er normalerweise ein aktiver Mensch, der immer etwas zu tun haben musste, um sich wohlzufühlen - Abschalten war für ihn bislang immer ein Fremdwort gewesen -, aber in diesem Falle wusste er, vielleicht zum ersten Mal überhaupt in seinem bewegten Leben, das gemütliche und ruhige Flair zu schätzen, das er insbesondere abends intensiv spürte, wenn er durch die engen Gassen spazierte und das sympathische Lächeln
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