Es wird Dich rufen (German Edition)
die Fähigkeit dazu schlummert. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen über das Träumen gesagt habe!«
Die Worte hatte Mike wohl vernommen und doch fühlte er sich, wie vor einer undurchdringbaren Wand aus hellem Milchglas stehend: Was auf der anderen Seite war, konnte er nur schemenhaft erahnen. Es war greifbar nah und doch so unerreichbar weit weg. Gleichwohl wusste er, dass er auf die dahinterliegende Seite gehörte. Sein Weg führte ihn in den Nebel. Ihm war nur nicht klar, wie er die Trennwand, die zwischen ihm und seiner Zukunft stand, überwinden konnte.
Ein Gedanke schoss ihm plötzlich durch den Kopf.
Hatte er womöglich das alles verbindende Element gefunden? »Wenn ich das richtig sehe, dann hat das Geheimnis doch mit etwas zu tun, das die Tempelritter in Jerusalem fanden. Es muss etwas sein, das es ihnen ermöglicht hat, zu einem mächtigen Orden zu werden.«
»Zu einem sehr mächtigen Orden«, fügte Jean hinzu. »Wir wissen, dass sie in ganz Europa als Mittler zwischen den jeweiligen Fürsten und Monarchen auf höchster Ebene fungierten. Unter den Templern blühten Kultur und Technik auf. Einige ihrer Kirchen, wie etwa die berühmte Kathedrale von Chartres, sind einzigartig. Und auch ihr sonstiges Wissen war beispiellos. Der Orden besaß eigene Krankenhäuser und hatte ein ausgereiftes medizinisches System. Epilepsie galt für sie nicht als Teufelsbesessenheit, sondern als heilbare Krankheit. Nicht nur damit waren sie ihrer Zeit weit voraus – unter den Templern entwickeltem sich auch das Vermessungswesen, die Kartografie und der Straßenbau. Außerdem hatten sie eine eigene Flotte, deren Schiffe erstmals mit Magnetkompassen ausgerüstet waren. Und das in Zeiten des angeblich so finsteren Mittelalters!«
»Das heißt also«, griff Mike die Schilderungen des alten Mannes auf, »es müsste eine Art verschollenes Wissen sein, auf das sie in Jerusalem gestoßen sind und das sie für ihre Zwecke eingesetzt haben. Ein Wissen, auf das später andere zurückgreifen konnten: der Maler Poussin als dessen Träger, Nostradamus als Visionär und Abbé Saunière als Quelle seines Reichtums.«
»Das ist im Ansatz richtig«, konstatierte Jean. »Ich bin stolz auf Sie, junger Freund.«
Das verbindende Artefakt, das überall auftauchte, schien dabei die Bundeslade zu sein. Sie war zu alten Zeiten als Heiligtum der Juden im Tempel Salomos untergebracht. Poussin hatte mit dem Zitat der »arca« auf sie verwiesen. Saunière hatte dessen Bild später genutzt, um hinter das Geheimnis zu kommen.
Soweit schien ihm alles verständlich und plausibel. Nur: Was hatten Nostradamus und seine Visionen mit der Bundeslade zu tun? Und wie war überhaupt der Heilige Gral mit all diesen neuen Erkenntnissen in Verbindung zu bringen? Dass Gral und Bundeslade zusammengehörten, davon hatte er schließlich noch nie gelesen.
»Sie sollten nicht den Fehler begehen und die Dinge überstürzt zusammenzubringen versuchen«, mahnte Jean. »Sie sind auf der richtigen Spur, aber Sie beginnen, sich selbst zu blockieren. Das ist nicht nötig.«
»Also habe ich schon wieder etwas übersehen?«, fragte Mike, erhielt aber außer einem Schulterzucken wieder einmal keine Antwort. Einmal zu viel.
Es erboste ihn plötzlich, weil er nicht verstand, was das alles sollte. Warum ihm Jean einerseits sein ganzes Wissen offenbaren wollte, andererseits aber immer wieder genau dann schwieg, wenn es interessant wurde.
»Warum können Sie mir nicht einfach sagen, was los ist? Was ist das für ein bescheuertes Spiel, Jean? Ich bin doch kein kleines Kind mehr, das alles erraten und erahnen muss …«
»Ich verstehe Ihre Emotionen«, versicherte der alte Mann. »Sie durchleben eine Art Crashkurs. Das ist nicht so einfach.«
Ihm war damals wesentlich mehr Zeit gegönnt gewesen als seinem Nachfolger, sich auf die Dinge einzustellen, zudem Mike noch nicht einmal wusste, für welche Aufgabe er ausersehen war. Die letzte Prüfung stand ihnen beiden schließlich noch bevor.
»Ich bitte Sie noch um etwas Geduld, dann werden Ihnen alle Ihre Fragen beantwortet, junger Freund.«
Mike entschuldigte sich für seine Überreaktion, die seiner Hilflosigkeit geschuldet war. Seit Tagen wusste er nicht mehr, was zu tun war. Oft fühlte er sich alleingelassen. Sein ganzes Leben schien sich in den letzten Tagen neuzuordnen und es war nicht einfach, sich damit anzufreunden.
»Vielleicht sollten wir uns wieder um die Tempelritter kümmern«, schlug Jean vor und wandte sich Pellier
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