Es wird Dich rufen (German Edition)
entfernt, den Schalldämpfer auf seine Pistole schraubte. Mike war klar, was das zu bedeuten hatte.
»Was wollen Sie noch?«, fragte der Journalist. »Sie haben doch alles.« »Ja, ich weiß.« Boone sah ihn prüfend an. »Ihnen ist wirklich nicht klar, worauf Sie sich eingelassen haben?«
»Ich will ein Buch schreiben«, sagte Mike. Es war nur die halbe Wahrheit. Natürlich stand diese Idee für ihn schon lange nicht mehr im Vordergrund. Es ging hier um mehr. Das wusste er inzwischen.
»Also nur ein typischer Journalist, was?«
»Mehr oder minder.«
»Dann tut es mir leid für Sie«, sagte Boone, während er die Waffe auf Mike richtete. »Nehmen Sie es bitte nicht persönlich.«
Mike fühlte einen heißen Schmerz in der linken Brustgegend, dem ein dumpfer Knall folgte. Boone hatte abgedrückt.
Instinktiv griff sich Mike an die schmerzende Stelle. Sie blutete. Er sah noch, wie Boone seine Waffe einsteckte, als sei nichts gewesen. Dann tauchte die Realität in ein gleißendes weißes Licht ab.
Mike brach zusammen und blieb bewusstlos auf dem Boden liegen.
46
»Aufwachen, mein Sohn! Du musst aufwachen!«
Nur langsam kam Mike wieder zu sich. Es war ein himmlisches Gefühl der Ruhe und Geborgenheit, das ihn in diesem Moment erfüllte. Ein Gefühl, wie er es nie zuvor erlebt hatte. So, als sei er nach einer unendlich langen Reise endlich wieder zuhause angekommen.
Er schlug die Augen auf und sah, dass er sich im Zentrum jenes großen runden Saales befand, von dem er schon einmal geträumt hatte und dessen Kuppel von zwölf Säulen getragen wurde.
Noch immer funkelten die Ornamente an den Säulen. Und noch immer fanden sich überall Inschriften, die auf den schrecklichen und zugleich ehrwürdigen Ort hinwiesen: »Terribilis est locus iste«.
Mike lag auf dem Tisch mit dem pulsierenden grünen Stein in der Mitte, auf dem die Worte »Benedictio Sacratissimi« zu lesen waren.
»Hallo?«, fragte er in die Leere des Raumes. »Ist jemand hier?« Schemenhaft näherte sich ihm eine Gestalt, die zunächst dem Heiligen Antonius auf Teniers Gemälde ähnelte, dessen Schatten sich dann aber allmählich in ein ihm wohlbekanntes Gesicht verwandelten.
»Vater!«, rief er verblüfft und fassungslos zugleich aus.
Er konnte nicht glauben, dass er ihn wiedersah.
Als Mike ein Teenager war, starb sein Vater bei einem fürchterlichen Verkehrsunfall. Und nun stand er plötzlich wieder vor ihm. So, wie er ihn all die Jahre in Erinnerung gehabt hatte, als wäre nichts passiert. Nichts hatte sich verändert.
»Vater!«, rief Mike erneut aus, während er sich erhob und auf ihn zuging. Er ließ sich wie ein kleines Kind in seine Arme fallen. Es tat gut, zu spüren, dass er von ihm aufgefangen und getragen wurde. Wie sehr er das früher vermisst hatte, wurde ihm erst jetzt so richtig klar.
»Wo sind wir hier?«, fragte Mike. »Bin ich tot?«
»Nein, du bist nicht tot, mein Junge.«
Seine Schmerzen waren verflogen. Mike sah an sich hinab. Er war unverletzt. Auch die Wunde, die er nach Boones gezieltem Schuss in seiner linken Brust erwartet hatte, war nicht vorhanden.
»Was ist geschehen?«, fragte er.
»Du bist angekommen.«
»Wo?«
»Im Gestern und im Morgen, im Schatten und im Licht. Du bist im Zentrum der Zeit, im Spiegel des Universums«, antwortete sein Vater in seltsam verschlüsselten Worten.
»Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«, fragte Mike mit Tränen in den Augen. »Ich habe dich so schrecklich vermisst!«
»Dabei war ich immer ganz nah bei dir«, streichelte sein Vater ihm liebevoll über den Kopf, während der Journalist sich an ihn schmiegte wie ein kleines Kind.
»Ich habe dich dein Leben lang begleitet, auch wenn du mich nicht gesehen hast. Du konntest es nicht, weil unsere Welten zu verschieden sind. Die Menschen sind nur in der Lage, das zu begreifen, was sie sehen und spüren können. Doch das Leben ist unendlich. Jede noch so tiefe Nacht ist immer nur der Beginn eines neuen Tages, mein Sohn.«
»Darf ich bei dir bleiben?«, fragte Mike voller Sehnsucht.
»Das geht nicht. Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Du wirst gebraucht, du hast eine Aufgabe. Das ist dein Schicksal, dem du dich stellen musst. Du kannst nicht davor wegrennen.«
»Aber ich weiß doch nicht einmal, was ich tun soll.«
»Hör auf dein Herz, mein Sohn. Tief in dir drin wirst du die Antwort finden. Sie war schon immer da!«
Mike löste sich aus der Umarmung seines Vaters und schaute sich um. Alles in dem Kuppelsaal kam ihm viel
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