Es wird Dich rufen (German Edition)
interessant, als dass man darin den versteckten Hinweis vermuten darf, es handle sich um ein Geheimnis, das seit Jahrhunderten nur Priestern zugänglich ist.«
»Also ist es doch eine Sache der Kirche?«
»Nein, nicht unbedingt!«, widersprach Jean. »Es ist nicht richtig, wenn wir davon ausgehen, dass nur die Kirche Priester hervorbringt – schon gar nicht mehr in unserer Zeit, da das Priesteramt für viele von der Berufung zum Beruf geworden ist. Ich möchte nicht anfangen, das Wissen zu kritisieren, das die jungen Studenten erlernen müssen. Auch zu Saunières Zeiten zählten die Priester ganz selbstverständlich zu den gebildeten Schichten. Das ist damals richtig gewesen und ist es auch heute noch. Ich kritisiere es, wenn das Amt des Priesters nicht mehr als das wahrgenommen wird, was es sein sollte: als das Amt eines Seelsorgers, der für seine Gemeinde in guten und schlechten Zeiten da ist. So etwas ist heutzutage leider selten geworden, junger Freund!«
»Kann sein …«, sagte Mike lapidar. Mit Kirchen und sonntäglichen Gottesdiensten hatte er seit seiner Konfirmation nichts mehr am Hut. »Aber was hat das nun mit den Priestern zu tun, die in dem Manuskript erwähnt werden?«
»Sie haben recht!«, entschuldigte sich Jean. »Ältere Menschen neigen wohl zum Plaudern. Die Botschaft ist so zu verstehen, dass damit Priester nicht im amtlichen, sondern im Sinne des Herzens gemeint sind. Wenn Sie es aus Sicht der Etymologie sehen wollen, gehen mit dem Begriff des Priesters – im ursprünglichen Sinne – die Worte geweiht und heilig einher. Er beschreibt also Menschen, die in besonderer, spiritueller Form und im Wissen um die Verantwortung für die Schöpfung leben.«
»Ich verstehe trotzdem noch nicht, worauf Sie hinauswollen, Jean«, räumte Mike ein.
»Lassen Sie es mich mit einem Beispiel verdeutlichen: Sie wissen, was die Legende über den Heiligen Gral sagt? Nur wer Demut und Liebe gelernt hat, der ist würdig, den Gral zu schauen. Und denken Sie auch an Jesus Christus und seinen oft falsch interpretierten Hinweis, dass man seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst. Das alles hat eng mit diesem Geheimnis zu tun! Hier geht es um eine Sache, der man sich nur annehmen darf, wenn man innerlich reif dafür ist!«
»Ich fürchte, so gesehen wird nie ein Mensch reif genug sein«, warf Mike ein. »Ich denke nicht, dass jemand von sich behaupten kann, frei von Wut und Aggressionen zu sein. Jeder tut mal Dinge, die er hinterher bedauert. Selbst ein Priester bleibt doch, bei allem Respekt, einfach nur ein Mensch!«
»Mit all dem Für und Wider, ja! Trotzdem gibt es einige wenige unter all den vielen Menschen, die eine Reife besitzen, eine innere Reife, die sie führt – auch wenn sie es noch nicht einmal merken.«
»Das wiederum halte ich für eine ziemlich gewagte These«, widersprach Mike.
»Wahrer Glaube kommt von innen und hat etwas mit Verantwortung zu tun«, sagte Jean mit väterlicher Miene. »Verantwortung sich selbst gegenüber – aber auch gegenüber allen anderen Menschen. Sie, Mike, befinden sich auf einem guten Weg, da Sie, wie ich höre, die Dinge hinterfragen und sich dessen bewusst sind. Das ist gut so! Aber lassen Sie uns das im Moment beiseitelegen. Es gibt Dinge, die man nicht diskutieren, sondern nur erfahren kann. Wichtig ist nur, dass die Priester des Herzens in dem Dokument angesprochen werden – nicht die des Verstandes!«
»Ich werde versuchen, daran zu denken«, versprach Mike. »Aber welche Rolle spielen diese Priester denn nun im Zusammenhang mit Rennes-le-Château? Weshalb ist die Botschaft nur für sie gedacht?«
»Das wiederum sehen wir, wenn wir den zweiten Teil der geheimen Botschaft lesen«, sagte Jean und verwies auf die aus der Reihe fallenden Buchstaben.
»Wenn Sie diese Buchstaben aneinanderfügen, dann erhalten Sie einen neuen französischen Satz, der folgendermaßen lautet:
A DAGOBERT II ROI ET A SION EST CE TRESOR ET IL EST LA MORT.
Übersetzt würde es heißen: ›Dieser Schatz gehört König Dagobert dem Zweiten und Sion – und er ist der Tod‹.«
Eine wahrhaft seltsame Botschaft! Klar war daran nur, dass das Geheimnis mit einem Schatz zu tun hatte, der in einer Verbindung mit Sion, also mit Jerusalem stand. Mehr noch: der Jerusalem zuzusprechen war – und einem gewissen König Dagobert II., von dem Mike noch nie gehört hatte.
»Wer ist das?«, fragte er.
»Einer der Merowinger-Könige«, erklärte Jean.
»Verstehe«, sagte Mike. »Dann
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