Eskandar: Roman (German Edition)
sagt Aftab-Khanum. Irgendjemand muss den armen Menschen in unserem Land helfen. Die Prüfer haben berichtet, dass jedes vierte Kind in unserem Land stirbt, bevor es fünf Jahre alt ist, und wenn sie das Glück haben zu überleben, lernen drei von vier Kindern niemals lesen und schreiben. Aftab-Khanum sieht ihren Mann mit Tränen in den Augen an, und Eskandar-Agha sackt in sich zusammen.
Er weiß, wenn sie über Kinder und deren hartes Schicksal spricht und erst einmal so traurig ist, dass sie Tränen in den Augen hat, kann nichts und niemand mehr seine Aftab-Khanum davon abhalten, das zu tun, was sie sich in den Kopf gesetzt hat.
Die wenigen Glücklichen, die den Weg in die Abendschulen finden, brauchen mich, sagt sie. Eskandar-Agha, ich weiß, was für ein gütiger Mensch Sie sind, und ich weiß auch, dass das Schicksal dieser Menschen Sie an Ihr eigenes erinnert, und genau deshalb weiß ich auch, Sie werden mir nicht im Weg stehen und mir Ihren Segen geben.
Khanum, genauso gut hätten Sie mir auch das Messer an die Kehle setzen können. Wer kann da noch Nein sagen?
Ich habe es gewusst, sagt Aftab-Khanum. Ich danke Ihnen und Allah.
Gott hat nichts damit zu tun, murmelt Eskandar-Agha, schlägt wütend seine Notizen auf und beginnt mit kratzender Feder und ohne noch einmal aufzublicken zu schreiben.
Als Aftab-Khanum sich draußen im Hof am kleinen Becken wäscht und für das letzte Nachtgebet vorbereitet, sieht sie durchs Fenster zu ihrem Mann und betet, dass er sein Wort hält und ihr nicht doch noch einen Strich durch die Rechnung macht.
Meine Aftab-Khanum hat recht, notiert Eskandar-Agha, aber ich fühle mich einsam und verlassen. Es gefällt mir nicht, dass sie andauernd etwas Neues macht und ich nach wie vor alte Kleidung verkaufe. Ich mag es nicht, dass sie glücklich ist und ich nicht.
Suchen Sie sich doch auch eine neue Aufgabe, ermutigt Aftab-Khanum ihn und strahlt voller Energie und Zufriedenheit.
An manchen Abenden holt Eskandar-Agha seine Sonne abends von der Schule ab und beobachtet mit Bewunderung, aber auch mit Neid, wie seine Frau den Jungen und Männern begegnet. Sie spricht ihre Schüler respektvoll mit Herr und, falls sie einen haben, den Nachnamen an, und die Schüler achten und schätzen sie ihrerseits.
Es sind Menschen wie Sie und ich, sagt sie. Was ihnen in ihrem bisherigen Leben gefehlt hat, sind Gelegenheiten, um mit ihrem Leben etwas Sinnvolles anzufangen.
Das wird sich erweisen, nachdem sie den Unterricht bei Ihnen absolviert haben, sagt Eskandar-Agha, denn spätestens dann müssen sie sich eine Arbeit suchen und ihr tägliches Brot verdienen.
Dass sie Kraft haben und durchhalten können, haben sie bereits bewiesen, verteidigt Aftab-Khanum ihre Schüler. Trotz aller Schwierigkeiten haben diese Jungen und Männer nicht aufgegeben, haben ihre sterbenden Dörfer verlassen und sich auf den Weg in eine für sie vollkommen unbekannte Welt gemacht. Sie haben all ihre Ängste überwunden und ihre Frauen und Kinder am Rand der Stadt in Baracken und Löchern, die sie in den Boden oder den Berg gegraben haben, zurückgelassen, um hier zu arbeiten und in die Schule zu gehen. Sie selbst leben auf Baustellen, in halb fertigen Räumen oder schlafen auf der Straße. Den ganzen Tag schaufeln sie Sand, stampfen Mörtel, brennen und legen Ziegel, sei es in der sengenden Sonne des Sommers oder der klirrenden Kälte des Winters, wo ihnen die Finger beinah absterben. Nach zwölf und mehr Stunden Arbeit sind sie müde und erschöpft. Trotzdem finden sie die Kraft und kommen abends in meinen Unterricht. Es gibt Tausende und Abertausende dieser Menschen in unserem Land.
Schade, dass Sie nicht mich ein wenig bewundern wie diese Menschen, sagt Eskandar-Agha.
Hören Sie auf, sich selbst zu bemitleiden. Natürlich bewundere ich Sie, sagt Aftab-Khanum und gähnt dabei halb absichtlich, halb un absichtlich.
Damit es so aussieht, als störte ihn das Gähnen nicht, gähnt Eskandar-Agha ebenfalls und streckt sich. Ein wenig Bewunderung habe ich in der Tat verdient, sagt er. Ich kenne keinen anderen Ehemann, der es hinnimmt, dass seine Frau ihn Abend für Abend allein lässt und ihre Zeit mit einer Horde wildfremder Männer verbringt. Jeder andere Mann würde eine zweite Frau nehmen, und sei es auch nur, um nicht auf sein warmes Abendessen und die Gesellschaft eines weiblichen Wesens verzichten zu müssen.
Und warum tun Sie es nicht? Warum nehmen Sie keine andere Frau?
Eskandar-Agha zuckt ein wenig zusammen,
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