Eskandar: Roman (German Edition)
unbeachtet zu seinen Füßen lag, und zieht eine Pistole heraus.
Augenblicklich entsteht große Unruhe. Die Djangali richten ihre Waffen auf die Farangi, die ihrerseits nervös ihre Flinten und Gewehre auf die Djangali richten.
Nur der Rothaarige bleibt unbeeindruckt. Bitte keine Aufregung, sagt er und hält die Pistole in die Luft. Bei dieser Waffe handelt es sich nicht um ein Mordinstrument, sondern um ein Geschenk. Eine kleine Aufmerksamkeit als Zeichen unseres guten Willens. Der Rothaarige lacht, sieht sich seelenruhig in der Runde der Djangali um und lässt übersetzen, keine Sorge, meine Herren, ich werde Ihren Anführer nicht töten. Er blickt auf die Waffe in seiner Hand und schüttelt den Kopf. Für den Fall, dass wir den Tod von Herrn Kutshek-Khan wünschen, werden wir uns nicht selbst die Finger schmutzig machen und einen Konflikt heraufbeschwören. Nein, meine Herren, wir werden dafür sorgen, fährt der Rothaarige fort und sieht den Djangali in die Gesichter, dass einer von Ihnen, einer seiner eigenen Männer und Vertrauten, ihn töten wird.
Nicht lange nachdem die Engelissi das Gebiet der russischen Besatzer wieder verlassen haben, bekommen die Russi Wind davon, dass ihr Feind unbemerkt in das von ihnen besetzte Gebiet eingedrungen ist und es genauso unbemerkt wieder verschwunden ist. Um klarzustellen, dass sie derartiges Verhalten nicht dulden, verstärken die Russi ihre Kämpfe gegen Mirza Kutshek-Khan, und zu ihrer Unterstützung schickt der König iranische Soldaten.
Der Mirza aber bleibt seinem Prinzip treu. Er greift seine iranischen Brüder nicht an, gewinnt dadurch nicht nur beim Volk, sondern auch bei seinem Feind, den Soldaten des Königs, mehr und mehr Sympathie. Der erboste König reagiert hilflos und lässt unter den Bauern, die weder lesen noch schreiben können, Flugblätter verteilen. Wer den Verräter Mirza Kutshek-Khan unterstützt, heißt es darin, macht sich strafbar, wird verhaftet und getötet. Die Leute nutzen das Papier zum Feuermachen, und Eskandar legt einen der Zettel in seine Notizen und schreibt die Geschichte des Rothaarigen auf.
Schneller als vermutet wird wahr, wovor der Fotomeister Eskandar gewarnt hat. Die Kämpfe weiten sich zu einem regelrechten Krieg aus, in dem wieder vor allem Unschuldige mit ihrem Leben bezahlen. Häuser werden niedergebrannt und Dörfer ausgerottet, Kinder und Frauen verschleppt, vergewaltigt, getötet, und Hunger und Elend verbreiten sich noch mehr.
Mit jedem Schuss, mit jedem Toten lerne ich den König und seine Farangi-Komplizen mehr zu hassen, schreibt Eskandar-Agha in seine Notizen. Ich bin müde und erschöpft. Es kommt vor, dass ich tagelang nichts zu essen habe, ich wurde sogar verletzt, doch es ist mir noch nie so gut gegangen, denn mein Leben hat einen Sinn.
Trotz der Kämpfe und obwohl er verfolgt wird und seine Gesundheit und Verfassung nicht mehr die besten sind, ist Mirza Kutshek-Khan unermüdlich. Er besucht die Menschen in den Dörfern, die Schulen, die Militärakademie und gibt den Auftrag zum Bau weiterer Schulen und einem Internat für Jungen, aber auch für Mädchen, die aus den entlegenen Dörfern und Wäldern stammen. Und anders als die Halunken, die Regierungssoldaten, die Osmanen und Russen, die Agenten der Engelissi, Almani und Amerikaner bezahlt Mirza Kutshek-Khan jeden Sack Reis und Weizen, das Brot und die Milch, die er und seine Männer von den Bauern bekommen. Wo er kann, unterstützt er die Ärmsten, verteilt eigenes Geld, Saatgut und Weizen. Er lässt Fabriken errichten, wo die Kleidung für seine Männer angefertigt wird, und verhilft damit den Menschen sogar zu Arbeit.
Anders als im restlichen Land genießt man in den von Mirza kontrollierten Gebieten jede Art von Freiheit. Die Menschen dürfen denken, sagen und schreiben, was sie wollen. Er selbst fördert die Veröffentlichung von Zeitungen, anderen Publikationen und Büchern. In diesem Teil des Landes, schreibt Eskandar, herrscht die erste wirkliche Freiheit des Iran.
Was das Ende des vom Volk verehrten und geliebten Mannes angeht, behält jedoch der rothaarige Engelissi recht. Zwar wird der Mirza weder von seinen Feinden noch von seinen Mitstreitern ermordet; er erfriert, weil er sich trotz Krankheit in den winterlichen Wäldern versteckt halten muss; doch es sind die Vertrauten, die eigenen Männer des Mirza, die den Kopf ihres einst geachteten Anführers von seinem Körper trennen, ihn in einen Sack stecken, nach Teheran reiten und dem
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