Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
auseinanderklamüsern kann (selten), sondern wie nah ich an ihn heranrutschen kann (sehr nah). Das Ledersofa ist so glatt.
Wo ist eigentlich Melanie? Egal. »Egal«, sagt Tobias. Er ist damit beschäftigt, mir die Haare zu verwirren, riecht an ihnen und küsst sie. Küsst meinen Mund. Hups. Lecker. Süß wie Tequila mit Fanta. Mach weiter, Tobias. »Ich glaube, wir sollten uns ein Zimmer suchen.«
Ich glaube, er nimmt meine Hand und führt mich durch verschlungene Gänge in ein kleines Zimmer. Max ist Student. Ich glaube, das ist sein Schreibtisch, auf den ich mich hier zu setzen versuche. Ich glaube, ich falle beinahe auf den Boden, dann doch in Tobias’ Arme. Ich glaube, ich bin zu schwer für dich! Ich glaube, er zieht mich aus, mit echten Kennerhänden. Ich glaube, wir sind nackt.
Und ich glaube, nein, muss nicht mehr glauben, er tut es, er fickt mich.
Es hat damals geregnet. Vielleicht hat auch die Sonne geschienen, aber nehmt doch einfach an, dass es geregnet hat, ich wünsche mir jedenfalls, es wäre so gewesen. Er wäre nass geworden. Ich saß auf meinem Schreibtisch und verfolgte die Gestalt, die man durch die Tropfen auf der Fensterscheibe nicht richtig ausmachen konnte. Das Fenster wollte ich trotzdem nicht öffnen. Wozu auch? Er drehte sich nicht um, ich konnte also kein Winken, geschweige denn ein Lächeln sehen, und auch ein Schrei hätte nichts mehr genutzt. Denn auch wenn man sich einbilden konnte, mein Vater ginge nur in sein Büro, heute wie jeden Tag bewaffnet mit
Aktentasche und Anzug, und würde spät am Abend wiederkommen, möglicherweise etwas schief, weil ihn das Gewicht einer neuen Zeitschrift beschwerte, wusste ich, es war nicht so. Er würde nicht wiederkommen. Heute nicht und morgen nicht und vermutlich niemals. Ich wusste nicht, was das bedeutet. Er geht. Das klang wie aus einem Roman. Scheidung. Wie eine Gerichtssendung im Privatfernsehen. Die Realität lief mir davon oder ich ihr. Es bleibt ein Traum; dieser Moment an der Scheibe, und der Rücken meines Vaters, der verschwommen durch den Regen einer Träne davonläuft.
Die Laken sind feucht und riechen nach ausgeschwitztem Alkohol. Noch während ich diesen Gedanken durch mein Gehirn zwänge, wird er bedrückender, oder die Laken werden enger und heißer, ich bin wohl etwas verwirrt. Raus aus dem Deckengefängnis, der Betthöhle. Aufrichten. Au. Kopf brummt. Nicht denken. Ich kann mich nicht aufstützen. Hä? Das Bett ist schief. Mein klebriger Körper rutscht in eine Grube in der Matratze. Etwas Schweres muss in meinem Bett sein. Mein Bett? Ein Bein? Gekräuselte, drahtige Haare kratzen an meiner Hüfte. Ein Männerbein. Ich betaste es ungläubig. Wie kommt das denn hierher? Oder: Wie komme ich zu dem Bein? Hängt da noch was dran? Das Bein gebiert plötzlich eine Hand, die mich im Nacken krault, fester, als eine fremde Hand sich das trauen würde. Ich halte das Bein als Geisel fest. »Wer hat dieses Bein hier hingelegt?«, frage ich berechtigterweise. Das Bein oder die Hand oder irgendein anderer Körperteil antwortet sanft grunzend: »Kleiner Dummkopf!« Kenne ich nicht. Hilft mir also nicht weiter. Ich muss mal wieder betrunken sein. Ob ich wohl zu Hause bin? Au. Will gar nicht darüber nachdenken. Will wieder schlafen.
Meine Mutter hatte sich »Zeit genommen«. Wir würden »das alles besprechen«. Das Trauma verarbeiten, meint sie wohl, irgendeine Freundin im Büro muss ihr dazu geraten haben. »Kinder brauchen jemanden, der sie direkt auf ihre Probleme anspricht und sie dann beruhigt.« Das also war der Plan, dem sie strikt folgte. Ich konnte ihr die Nervosität ansehen, sobald ich zur Tür hereingekommen war. Die Schultasche schmiss ich nicht wie sonst in irgendeine Ecke, sondern legte sie langsam auf dem Schuhregal im Flur ab.
»Kann ich mal kurz mit dir reden, Anni?« Sie stand in der Küchentür.
»Anita, Mama, ich bin kein Baby mehr«, knurrte ich zurück. Ich hatte keine Lust, musste Hausaufgaben machen, endlich wieder lernen, ich hatte die letzte Woche nichts zustande gebracht. Ihre Hände zitterten leicht, sie faltete sie hinter dem Rücken. Ich folgte ihr in die Küche. Vielleicht würde sie die richtigen Worte finden. Sie war doch meine Mutter.
»Wie war die Schule?«, fragt sie, nachdem ich mich auf meinen Stuhl gesetzt hatte. Ich hebe eine Augenbraue. Sie lacht schrill. »Na ja, darüber will ich eigentlich gar nicht mit dir reden. Ich will nur, dass du weißt …«
Bitte sag es. Bitte sag, dass sich nichts
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