Everlasting
Akzent ist … anders.»
Das war gefährliches Terrain. Ein Vortrag über die Entwicklung der englischen Sprache vom einundzwanzigsten bis ins dreiundzwanzigste Jahrhundert war definitiv verboten. «Und du?», fragte er. «Was willst du später mal werden?»
«Architektin, glaube ich», sagte sie.
«Tatsächlich?» Erstaunlich, dachte Finn. In ihren Tagebüchern hatte sie nichts dergleichen erwähnt.
«Warum überrascht dich das?», fragte sie.
«Einfach so. Und was wirst du bauen?»
«Keine Ahnung. Jugendherbergen, vermutlich.»
Sie lachten beide.
Sie waren auf einem Spielplatz, umgeben von den Rückseiten Berliner Mietshäuser mit ihren leeren Brandwänden, gewundenen Feuerleitern, und Dachluken. Es gab einen Fußballplatz hier, ein Klettergerüst aus Seilen, zwei Rutschen, eine Wasserpumpe und ein Karussell, das Finn an die Zentrifuge des OZI erinnerte.
Es war jetzt kühler geworden, denn die Sonne stand tief im Westen und würde bald untergehen. Sie waren ganz allein. Erschöpft von ihrem Fußmarsch, ließen sie sich auf eine Bank plumpsen. Finn schaute nach oben zu den erhelltenFenstern, gelbe Rechtecke und Quadrate vorm dämmrigen Himmel. Er sah die Silhouetten der Bewohner, die sich durch die Zimmer bewegten, Abendessen kochten, Fernseher einschalteten, die Kleinen bettfertig machten. Alles hatte eine ganz eigene Choreographie und kam ihm so seltsam vertraut vor, als ob er ein Teil davon wäre.
«Ich schau gern in Fenster», sagte Eliana. «Das hat so was Intimes. Findest du nicht?»
«Ja. Ich habe gerade so was Ähnliches gedacht.»
«Das da ist unser Haus», sagte sie und zeigte auf eine weiß getünchte Fassade.
«Das wusste ich gar nicht.»
«Riechst du den Süßkartoffelauflauf meiner Mutter?»
Finn schnupperte in der Luft. Er roch nur Eliana und ihr Everlasting. «Ja, ich glaub schon. Butter? Und …» Er schnupperte noch mal. «Süßkartoffeln?»
Sie knuffte ihn in die Rippen. «Haha.»
«Können deine Eltern uns von da aus sehen?», fragte er mit Blick auf den Fensterfront.
«Nein, das da ist das Hinterhaus. Unsere Wohnung ist im Vorderhaus.» Leichter Wind kam auf, und sie knöpfte ihre Jacke zu. «Madeline und ich waren früher ständig hier.» Ihre Worte hingen einen Moment lang in der Luft … wehten dann mit der Brise davon. «Ich habe immer wieder diesen Albtraum, in dem mir ein Bein amputiert wird. Ich denke, das ist Madeline, die mir fehlt.» Sie wandte sich Finn zu. «Ich vermisse sie. Schrecklich. Jeden Tag. Ich glaube, sie wird mir immer fehlen.»
Ihr kamen die Tränen, und er spürte, wie sich seine eigene Kehle zuschnürte.
«Ich bin froh, dass du sie noch kennengelernt hast», sagte sie.
Er nickte.
Ihre Augen wanderten zu seinen, und er konnte regelrecht sehen, wie ihr die Traurigkeit aus dem Gesicht wich. «Weißt du, Finn, du siehst noch genau so aus wie damals, vor zwei Jahren», sagte sie und lächelte jetzt. «Haargenau so! Das ist wirklich komisch. Als wärest du keinen Tag älter geworden.»
Er war ja auch nur zwei Monate älter geworden, während sie jetzt zwei Jahre und fast vier Monate älter war.
«Du hast da so ein einzelnes Haar», sagte sie. «Genau da. Das ist länger als die anderen. Und so störrisch.» Sie zeigte auf sein Kinn. «Ich könnte schwören, dass ich das vor zwei Jahren schon gesehen habe.» Sie hob die Hand an sein Gesicht, und ihr Zeigefinger streifte sein Kinn. «Da.» Sie wackelte leicht an dem Haar. «Spürst du das?»
Und ohne groß zu überlegen, hatte er ihre Hand ergriffen und sie geküsst. Er küsste die Innenfläche, ganz sachte, bestaunte die weiche Mulde, er küsste jeden Finger, jede Fingerspitze, ein eingerissenes Nagelhäutchen an ihrem Zeigefinger, ihr Handgelenk, wo der Duft ihres Parfüms ihn fast in den Wahnsinn trieb.
Er hörte sie nach Luft schnappen und blickte hoch.
«Noch nie hat mir jemand die Hand geküsst», flüsterte sie. «Noch nie.»
«Und ich muss zugeben, ich habe noch nie eine Hand geküsst. Schon gar nicht so eine schöne Hand wie deine.»
Ihre Köpfe schwebten aufeinander zu. Finns Herz war kurz davor, sich vor Aufregung und Erwartung aus seinem Brustkorb herauszuboxen, als sein Mobiltelefon mit einem Piepston zum Leben erwachte. Erschrocken fuhren sie auseinander. Finn zog widerstrebend die Reißverschlusstasche an seiner Kapuzenjacke auf. «Ah», sagte er mit einemBlick auf das Handy. Rouge hatte ihm geschrieben, wo und wann sie sich treffen sollten. «Ein Short Messaging
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