Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
wegläuft und sich versteckt, tut, was immer nötig ist, um vor ihr zu flüchten. Ich weiß, wir haben nur eine, höchstens zwei Sekunden Zeit, ehe sie auf uns losgeht – ehe es zu spät für ihn ist, um zu verschwinden.
Und obwohl ich absolut nicht scherze, obwohl ich ihm einen Blick zuwerfe, der ihm sagt, dass ich es hundertprozentig ernst meine, rührt er sich nicht vom Fleck. Er bleibt hinter dem Ladentisch stehen, hinter mir, weil er irrtümlicherweise annimmt, unser kurzer, kaum vollzogener Kuss würde ihn irgendwie dazu verpflichten, dazubleiben und mich zu beschützen.
Haven hat bereits den Raum durchquert und baut sich mit wildem, wahnsinnigem Blick und völlig außer Kontrolle vor uns auf.
Ich stelle mich schützend vor Jude, während sie lächelt, sich langsam mit der Zungenspitze über die Lippen fährt und mir über die Schulter späht. »Tu dir selbst einen Gefallen und hör nicht auf Ever. Du bist wesentlich besser dran, wenn du genau da bleibst, wo du bist. Du kannst mir nie entkommen, ganz egal, wie sehr du dich auch bemühst. Außerdem brauchst du deine Energie dringend für später.«
Sie macht einen schnellen Schritt nach rechts, als wollte sie um mich herumfassen und ihn sich schnappen, doch ich stelle mich ihr in den Weg. Aus schmalen Augen fixiere
ich sie und muss an unsere unselige Begegnung auf dem Schulklo denken, als sie mich in der Hand hatte und gegen meinen Willen an die Wand klatschen konnte, und wenn ich ihr schon kaum gewachsen bin, wird Jude es niemals überleben.
»Tut mir leid, dass ich eure kleine Knutscherei unterbrochen habe.« Sie lacht, und ihre rot geränderten Augen sehen hektisch zwischen uns hin und her. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr zwei in der Richtung weitermachen wolltet. « Sie greift nach mir und bohrt mir die scharfe Spitze ihres langen, blau lackierten Nagels in die Schulter, ehe sie wieder zurückweicht. Die eisige Kälte ihrer Energie brennt noch lange, auch wenn nicht zu übersehen ist, welche Anstrengung es sie gekostet hat, das Zittern ihrer Hand auf ein Minimum zu reduzieren.
Sie legt den Kopf schief, packt eine dicke Haarsträhne, die über ihre Schulter wallt, und dreht sie immer wieder um ihren erhobenen Zeigefinger, während sie den Blick nicht von Jude nimmt. »Bevor du dich allzu sehr darüber freust, dass du sie küssen durftest, solltest du wissen, dass Ever dir nur erlaubt hat, ihr so nahezukommen, weil Damen sie wegen Stacia verlassen hat. Mal wieder.« Sie schüttelt den Kopf, schürzt die Lippen und sieht zwischen ihm und mir hin und her. »Na ja, ich schätze, sie sucht eben sozusagen jemanden, auf den sie zurückgreifen kann, du weißt schon.«
Ich sehe rasch zu Jude hinüber und hoffe, dass er nicht wirklich auf das hört, was sie sagt, und sie nicht ernst nimmt, doch sein Blick ist so umwölkt, so undurchschaubar, dass er fast unmöglich zu deuten ist.
»Wirst du es nie leid?« Sie lässt die Haarsträhne los, um stattdessen die unzähligen Ringe zu bewundern, die sie an
jedem Finger trägt. »Ich meine, dass Ever dich seit jeher als Schulter zum Ausweinen benutzt und dich die Drecksarbeit für sie erledigen lässt? Also, ganz im Ernst, wenn du mal darüber nachdenkst, ist ein Kuss ja wohl so ziemlich das Mindeste, was sie dir gönnen kann, da sie doch der Hauptgrund dafür ist, dass dein Leben ein so tragisch frühes Ende nehmen muss.«
Doch obwohl sie offenbar ewig weiterreden und die Sache so lange hinauszögern könnte, wie es ihr passt, habe ich genug gehört. Jude hat genug gehört. Und ich will nicht, dass er sich von ihr ablenken lässt oder dass er ihr womöglich am Ende noch glaubt.
»Was willst du?« Ich atme ganz ruhig, finde meine Mitte und bereite mich auf das vor, was sie mit uns vorhat.
»Oh, ich glaube, das weißt du.« In ihren Augen blitzen die Iriden, die einst ein wunderschöner Wirbel aus Bronze- und Goldtönen waren, die nun aber dunkel, düster und voller roter Flecken sind. »Ich denke, das habe ich ausreichend klargemacht.« Sie grinst. »Ich kann mich nur nicht entscheiden, wen von euch ich als Ersten umbringe. Vielleicht kannst du mir ja dabei helfen. Was wäre dir denn lieber – du oder Jude?«
Ich halte ihrem Blick stand und tue, was ich kann, um Judes immer aufgewühltere Energie zu besänftigen, während ich ihre Aufmerksamkeit und ihre Wut auf mich ziehe. »Das ist also alles? Dein großer Plan, dein großer, beängstigender Schachzug, den du schon seit – wie lange, Wochen, Monaten –
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