Evolution, Zivilisation und Verschwendung
weniger Kinder geboren als in den Entwicklungsländern. Man nennt dieses Phänomen das
demographisch-ökonomische Paradoxon
(Birg 2003: 30).
Auch diese Erscheinung könnte als fehlende Bestandserhaltung bezeichnet werden, diesmal aber nicht bezüglich der Zahl an Menschen, sondern den Kompetenzen und Qualifikationen.
Die allgemeine Lebenserwartung steigt (die Menschen werden immer älter)
. Dieser Aspekt wird im Rahmen des vorliegenden Buches jedoch als gegeben angenommen und nicht weiter thematisiert.
Insgesamt kann also von einer fehlenden
quantitativen
und
qualitativen
Bestandserhaltung der Bevölkerung gesprochen werden.
Einige Länder, wie etwa die USA, sind nur vom zweiten und dritten Teilaspekt betroffen, die meisten entwickelten Länder allerdings von allen dreien.
Wir können zusammenfassen:
Es werden in Deutschland zu wenige Kinder geboren.
Der Hauptgrund dafür ist das zunehmende Verschwinden der Mehrkindfamilie mit drei oder mehr Kindern.
Darüber hinaus werden in sozial schwachen und bildungsfernen Schichten mehr Kinder geboren als in gebildeten Bevölkerungskreisen.
Sie werden jetzt vielleicht einwenden, der letzte Punkt sei doch egal, alle Menschen seien schließlich gleich. In „
Hurra, wir werden Unterschicht!
“ (Mersch 2007a) konnte jedoch gezeigt werden, dass es sich bei diesem Befund um das eigentliche Hauptproblem des demographischen Wandels handelt.
5.1 Wie es dazu kam
Bevor ich mit der Analyse beginne, möchte ich zunächst den demographischen Wandel, den die Fachliteratur manchmal auch als die fünfte Phase des demographischen Übergangs bezeichnet, in einen historischen Kontext stellen.
Während der gesamten Geschichte der Menschheit mussten Frauen eher durchschnittlich fünf bis acht Kinder in die Welt setzen, damit sich einePopulation mengenmäßig erhalten konnte (Joas 2001: 483). Der Grund: Die Säuglings-, Kinder- und Müttersterblichkeit waren hoch, und auch noch im Erwachsenenalter konnten Krankheiten, Seuchen, Hunger, Kriege, Unfälle oder Verbrechen zu einem frühen Tod bei nur sehr wenigen Nachkommen führen.
Dies änderte sich schlagartig zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgrund einiger Errungenschaften der Medizin – insbesondere der Hygiene –, einer besseren Nahrungsversorgung der Bevölkerung und weiterer Modernisierungsprozesse. In der Folge ging die Sterblichkeit zurück und es entstand ein dramatischer Bevölkerungszuwachs: die zweite Phase des demographischen Übergangs.
Als demographischer Übergang wird in der Demographie allgemein der Transformationsprozess von hohen Geburten- und Sterberaten zu niedrigen Geburten- und Sterberaten verstanden. In Deutschland ist damit meist der Zeitraum von etwa 1880 – 1930 gemeint. Viele Experten ordnen auch den heutigen demographischen Wandel mit seinen extrem niedrigen Fertilitätsraten einer Spätphase (posttransformative Phase) des demographischen Übergangs zu. Dies wird im vorliegenden Buch jedoch nicht getan. Stattdessen wird der demographische Wandel als ein eigenständiges Phänomen mit ganz anderen Ursachen verstanden.
Der demographische Übergang gliedert sich in vier Phasen:
Phase 1 (high stationary)
Stark schwankende Geburten- und Sterberaten, die auf hohem Niveau dicht beieinander liegen. Es findet kein gravierender Bevölkerungszuwachs statt.
Phase 2 (early expanding)
Die Sterberate sinkt bei etwa gleichbleibender Geburtenrate. Es entsteht ein signifikanter Bevölkerungszuwachs.
Phase 3 (late expanding)
Die Geburtenrate sinkt, und zwar sehr bald schneller als die Sterberate. Beide Werte gleichen sich sukzessive an. Der Bevölkerungszuwachs nimmt laufend ab.
Phase 4 (low stationary)
Die Geburten- und Sterberaten liegen auf tiefem Niveau eng beieinander. Es findet kein nennenswerter Bevölkerungszuwachs statt.
Im Jahr 1816 lebten auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs 25 Millionen Menschen, am Vorabend des Ersten Weltkriegs dagegen bereits 68 Millionen (Ehmer 2004: 6f.). Weitere fünf Millionen waren – vor allem nach Übersee – ausgewandert (Ehmer 2004: 9). Zwischen 1900 und 1910 erreichte die jährliche deutsche Bevölkerungszuwachsrate mit rund 1,5 Prozent ihren Höhepunkt. Die Bevölkerung nahm in dieser Periode schneller zu als jemals zuvor und jemals danach in der deutschen Geschichte (Ehmer 2004: 7). Der Zuwachs war auch stärker als in den meisten anderen europäischen Ländern. Einige Wissenschaftler führen die beiden dann folgenden Weltkriege unter anderem auf diese Entwicklung zurück
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