Ewig sollst du schlafen
vor ihr jedoch ein Sixpack, als hätte er in seinem kurzen Leben nie etwas anderes getan. Sie nahm eine Cola Light aus dem Kühlregal und hörte dabei zufällig, wie ein anderer Kunde, ein unrasierter Typ Ende sechzig mit widerborstigen grauen Augenbrauen und einigen Zahnlücken, fragte: »Was ist denn eigentlich da oben am Blood Mountain los?« Der Junge tippte die Preise ein und griff nach den Geldscheinen. »Weiß ich auch nicht so genau, aber irgendwas soll ein paar Jäger erschreckt haben, und einer ist dann in eine Schlucht gestürzt oder auch gestoßen worden. Musste mit dem Rettungshubschrauber ins Mason General nach Atlanta geflogen werden.«
Nikki schlenderte an dem Regal mit den Käsechips vorbei und war ganz Ohr. »Da oben soll es nur so wimmeln von Polizisten. Ich habe gehört, sie haben da Gräber gefunden oder so«, sagte der Mann.
Der Junge ließ sich nicht dazu bewegen, Interesse zu zeigen. Er zuckte mit einer Schulter und gab dem Kunden sein Wechselgeld.
»Ja, der alte Scratch Diggers behauptet, sie hätten schon zwei Leichen ausgegraben.«
»Und woher will Scratch das wissen?«
»Ganz einfach. Seine Frau arbeitet bei der Polizei in der Telefonzentrale.«
»Scratch redet zu viel.«
»Sicher. Aber meistens stimmt es, was er sagt.«
Zwei Leichen. Aber was hatte das mit Pierce Reed zu tun?
Nikki nahm eine Packung Doritos und eine Zeitschrift aus dem Regal und stöberte die Seiten durch, als interessierte sie sich für den neuesten Promi-Klatsch. Und die ganze Zeit über spitzte sie die Ohren und lauschte der Unterhaltung.
Aber sie war zu Ende. Der Alte schlenderte gemächlich zur Tür mit der merkwürdigen Türglocke und der Hightech-Überwachungskamera über dem Querbalken. »Bis dann, Woodie. Grüß deine Eltern.«
»Mach ich«, versprach der Junge. Die Glocke schlug an, und der Kunde verließ den Laden.
Nikki ging zur Kasse. »Stimmt das?«, fragte sie mit unschuldiger Miene und kramte in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie. »Ich habe zufällig gehört, worüber Sie geredet haben. Sind am Blood Mountain wirklich Leichen vergraben?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich habe eben die Nachrichten gesehen.« Der Junge wies mit dem Kinn auf einen kleinen Schwarzweißfernseher unter dem Tresen. Der Empfang war schlecht, das Bild grobkörnig. »Und da haben sie was über Gräber gesagt, die da oben entdeckt worden sind. Aber der Bericht war, wie heißt das gleich, nicht von der Polizei bestätigt.« Er schenkte ihr ein nettes jungenhaftes Lächeln und fügte hinzu: »Aber wie mein Daddy immer sagt: ›Wo Rauch ist, da ist auch Feuer.‹«
»Wie wahr«, pflichtete sie ihm bei, reichte ihm einen Fünfer, und er gab ihr den Rest zurück. »Wie weit ist das von hier?«
»Stunde, vielleicht auch anderthalb«, antwortete der Junge, während er ihre Einkäufe in eine Tüte packte. Und in der Zeit würden Norm Metzger und ein halbes Dutzend lokaler Nachrichtensender ihr zuvorkommen. Sie verabschiedete sich und eilte hinaus. Rasch stieg sie in ihren Wagen, fädelte sich wieder in den Verkehrsstrom auf dem Highway ein und trat das Gaspedal durch. Die Polizei hüllte sich also in Schweigen. Das überraschte sie nicht weiter.
Vielleicht hatte sie ja doch noch Glück. Wenn Cliff Siebert ihr doch nur verraten würde, warum Pierce Reed zum Tatort geschickt worden war. Dann hätte sie einen neuen Ansatzpunkt, möglicherweise einen, der sie bei Reed weiterbrachte. Sie trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad und nagte an ihrer Unterlippe. Irgendwie musste sie es einfach schaffen, ein Exklusivinterview von dem unzugänglichen Detective zu kriegen. Es gab bestimmt eine Möglichkeit, an ihn heranzukommen. Es gab schließlich immer eine Möglichkeit »Sie sagten, Sie hätten eine Affäre mit ihr gehabt.« Sheriff Baldwin hatte eine Zeit lang über den Sarg gebeugt dagestanden. Als er sich aufrichtete, schmerzte sein Rücken. Um sie herum stieg Nebel auf, offenbar stand ein kräftiger Regenschauer bevor. Die kalte Bergluft kroch Reed in die Knochen.
»Ja, aber das war vorbei.«
»Seit wann?«
»Ich habe sie vor ein paar Monaten zum letzten Mal gesehen. Da habe ich auch Schluss gemacht.« Baldwins Interesse war geweckt. Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, und in dem unheimlichen künstlichen Licht der Scheinwerfer kniff er die Augen zusammen.
»Warum?« Der Sheriff warf noch einen Blick in den Sarg. »Schöne Frau.«
Reed spürte, wie ein Muskel in seiner Wange zuckte. »Sagen wir einfach,
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