Ewige Schreie
beiden Seiten des Wegs, als mußten sich dort auch die Gräber befinden.
Ich riet den beiden anderen, stehenzubleiben, ging selbst nach rechts, um den ersten Grabstein zu suchen. Das Unkraut wuchs kniehoch. Der Boden unter mir war weich und nachgiebig. Blätter vom letzten Herbst lagen noch dort, und es raschelte, wenn ich über sie schritt. Das Geräusch konnte ich sogar trotz der Schreie hören. Dann entdeckte ich den ersten Grabstein. Zu Beginn sah ich nur das Schimmern. Etwas gelblich leuchtete es durch die nicht so sehr dicht stehenden Zweige eines Gebüschs. Und es befand sich in Bodenhöhe, nicht in der eines normal aufgestellten Grabsteins. Ich bemühte mich, möglichst leise zu gehen, bog die hohen Zweige zur Seite und bekam einen freien Blick auf den Grabstein. Meine Augen wurden groß. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und die wenigen Zeugen hatten nicht gelogen oder sich getäuscht. Auf den flach am Boden liegenden Grabsteinen waren in der Tat die Gesichter zweier Toter zu sehen.
Die beiden Steine lagen dicht nebeneinander. Der Zwischenraum war nicht größer als die Breite einer Hand.
Ein schauriges Bild!
Zwei Grabsteine, zwei Gesichter!
Verzerrte Totenfratzen, die sich flach auf den Steinen abzeichneten, aber keine Tiefe besaßen. Aufgerissene Mäuler, Schlünde, die wie Tunnels wirkten, tote, glanzlose Augen, verdrehte Pupillen und eine dünne Pergamenthaut, wobei die Haare auf den Schädeln mich an verfilztes Buschwerk erinnerten.
Und sie schrien! Jetzt, wo ich direkt vor ihnen stand, gellten die Schreie noch lauter. Ich verzog selbst mein Gesicht, weil ich sie nicht mehr hören konnte, hielt mir die Ohren zu, aber die Schreie verstummten nicht. Sie drangen zwar gedämpfter an meine Ohren, doch ein Ausweg war es für mich nicht.
Es gab nur eine Chance!
Ich mußte sie töten!
Langsam ließ ich die Arme sinken. Die verzerrten Gesichter stießen weiterhin die schrecklichen Schreie aus, die verdrehten Augen schienen mich durchbohren zu wollen, und mir lief es trotz der Wärme kalt den Rücken hinab.
Ich wollte schon mein Kreuz über den Kopf streifen, als ich neben mir eine Bewegung merkte. Helen kam. Sie hatte sich geduckt, drückte mit den Händen Zweige zur Seite, um ebenfalls einen Blick auf die Grabsteine werfen zu können.
Zitternd blieb sie neben mir stehen. Ich sah ihr an, daß sie etwas sagen wollte, sie öffnete auch den Mund, ihre Augen weiteten sich entsetzt, und das Gesicht wurde zu einer Fratze.
»Was ist los?« fragte ich.
Unendlich langsam hob Helen Cloud den Arm halbhoch, streckte ihren Finger aus und deutete auf den rechten der beiden Grabsteine. »Das… das Gesicht!« flüsterte sie. »Ich… ich kenne es…«
»Wer ist es?« Ich fragte nach, obwohl ich bereits einen schrecklichen Verdacht hatte.
»Mein Vater!« schrie sie. »Herrgott, es ist mein Vater!«
***
Die nächsten Sekunden waren schlimm. Besonders für Helen, denn sie mußte Schreckliches durchmachen. Vor ihr auf dem Grabstein zeichnete sich das Gesicht ihres eigenen Vaters ab. Ihres toten Vaters!
Sie war im nächsten Augenblick wie von Sinnen und fiel auf die Knie. Bevor ich sie daran hindern konnte, umklammerte sie den Grabstein und rief so laut den Namen ihres Vaters, daß sie sogar die Schreie damit übertönte.
Zuerst hatte ich Angst gehabt, daß das sich auf dem Grabstein abzeichnende Gesicht reagierte, daß es dreidimensional wurde, aber das geschah nicht. Es griff nicht an, sondern blieb ruhig und gelassen, wenn man den Ausdruck mal gebrauchen darf. Die Schreie stoppten nicht. Sie gellten nach wie vor.
Mir war nicht wohl zumute, ich konnte Helen in ihrer Trauer auch nicht allein lassen, sondern umfaßte ihre Schulter und zog sie wieder auf die Füße.
Sie drehte sich auf der Stelle unnd preßte sich gegen mich. Dabei weinte sie und stammelte unverständliche Worte. Ich hatte Verständnis für sie. Mein Gott, wie hätte ich reagiert, wenn ich plötzlich auf einem Grabstein das Gesicht eines verstorbenen Verwandten gesehen hätte. Wahrscheinlich nicht anders.
»Kommen Sie, Helen, Sie müssen jetzt stark sein! Gehen Sie bitte wieder zurück!«
Das Girl löste sich von mir. »Aber Vater…«
»Es gibt nur eine Lösung!«
Ihre Augen wurden groß. »Wie bei meiner Mutter?« fragte sie unter Tränen.
»Ja.«
Sie schaute mich einige Sekunden an, und ich hätte wer weiß was dafür gegeben, um ihre Gedanken zu erraten. Dann holte sie tief Luft, und gleichzeitig schnellte ihr rechter Arm
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