Ewiges Blut - ein Vampirroman (German Edition)
einem System aus Erwartungen und Verpflichtungen, daß ich fast nicht mehr ich selbst sein konnte. Aber zu allem Übel kam zu diesem System auch noch mein Gewissen, daß es mir unmöglich machte, mich einfach zu lösen und – zu verschwinden. Ich seufzte. Und wartete.
Die Zeit schien dahinzuschnecken. Ich vertrieb sie, indem ich in einigen Büchern herumblätterte, andere komplett durchlas, Henrys Weinkeller durchstöberte und dabei lauthals sang. Ich brauchte keinen Besuch zu befürchten. Ich wartete.
Gegen Morgen, das Grau des hereinbrechenden Tages war nicht mehr aufzuhalten, bemerkte ich eine gewisse Schläfrigkeit in meinen Gliedern. Ich schloß für einen Moment die Augen und war auch schon eingeschlafen. Erst, als ich Henrys schwere Schritte im Flur hörte, wachte ich wieder auf. Die Sonne war bereits aufgegangen, auch wenn sie sich hinter einer dicken Wolkenschicht verbarg.
Erschrocken schloß ich die Augen und tastete nach meiner Sonnenbrille. Meine Bewegungen waren unendlich langsam. Ich kniff die Augen zu zwei schmalen Sehschlitzen zusammen und sah, daß Henry entsetzt auf mich zu kam.
»Was um Gottes Willen machst du hier?« hörte ich ihn fragen, doch ich konnte nicht antworten. Meine Zunge lag wie ein Stück Blei in meinem Mund. Selbst meine Gedanken waren wie müde Fische in einem trüben Gewässer.
Ich atmete schwer und geräuschvoll ein – hatte es offensichtlich schon länger nicht mehr getan. Die Luft war dick – wie Wasser. Jeder weitere Atemzug eine Qual.
Wie in Zeitlupe setzte ich mich auf.
»Der Kreis ... von Merrick«, brachte ich schließlich mühsam lallend hervor. Ich sah, wie sich Henrys Gesichtsausdruck veränderte.
»Was ist mit dem Kreis? Wissen sie etwas – von euch?«
Ich schüttelte mühsam den Kopf.
»Von mir? – Oh mein Gott.« Henry wurde bleich, sein Gesicht spannte sich, was ihn auf eigentümliche Art jünger werden ließ. Rasch raffte er einige Manuskripte, die auf seinem Schreibtisch lagen, zusammen und warf sie in eine neue Reisetasche, die er aus einem Schrank hervorzog. Auch Kleidungsstücke und Toilettenartikel flogen mit einer erstaunlichen Achtlosigkeit in die Tasche. Hektisch sah er sich um.
»Hoffentlich beschädigen sie nichts«, murmelte er und wurde dann nachdenklich. »Muß ich wirklich fliehen?« fragte er und sah mich an.
»Ja«, gurgelte ich, und ein schwerer Hustenanfall überfiel mich. Henry trat einen Schritt auf mich zu.
»Ich muß dich jetzt verpacken, nicht wahr? Hoffentlich schaffe ich es, dich rechtzeitig zum Wagen zu bringen.« Vorsichtig zog er die Sonnenbrille aus meiner Tasche und setzte sie auf meine Nase. Dann holte einen schwarzen breitkrempigen Hut und schwarze Lederhandschuhe aus seiner Garderobe, ebenso einen dicken Schal. Er bemühte sich, soviel wie eben möglich von meinem Körper vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Ich konnte nur zusehen – es war ein merkwürdiges Gefühl.
Er verschwand für einen Augenblick, um seine Reisetasche im Auto zu verstauen. Als er wiederkam, war sein Gesicht etwas entspannter.
»Noch ist alles ruhig.«
Er umfaßte beherzt meine Taille und zog mich mit erstaunlicher Kraft aus dem Sessel. Meine Beine gaben sofort nach, und für einen Moment dachte ich, daß wir beide zu Boden gehen. Die Vorstellung war irgendwie erheiternd, und meine Mundwinkel zogen sich minimal nach oben. Doch Henry hatte es bemerkt.
»Ich wüßte nicht, was es hier zu lachen gibt«, sagte er ärgerlich und faßte mich noch ein wenig fester.
»Versuch jetzt, zu gehen«, sagte er schließlich, und ich bemerkte Schweißperlen auf seiner Stirn. Doch meine Beine gehorchten nicht – zumindest nicht mir. Mühsam schlurfte ich sie über den Boden, und meine Füße kamen in einem unmöglichen Winkel auf. Aber wir schafften trotzdem einige Meter, bis meine Beine sich verhedderten und ich nach vorn fiel.
Mit unglaublicher Kraft riß Henry mich hoch und keuchte: »Ich kann von Glück sagen, daß du so ein zierliches Bürschchen bist. Aber momentan kommst du mir vor ...« Wie eine Leiche, vervollständigte ich in Gedanken, doch Henry sagte: »Wie ein nasser Sack.«
Na, das war nicht schmeichelhaft, aber besser, als mein Gedankengang. Wir verließen das Haus im Schneckentempo durch den Seiteneingang, und Henry schleifte mich zum Auto. Das Tageslicht verbrannte mein Gesicht und meine Augen, und jeder Schritt fiel mir schwerer. Die Sonne schien meine letzten Energiereserven aufzubrauchen.
Als ich endlich im Auto saß und hörte,
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