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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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ihm in den Arm gefallen. Gingold, dieser bösartige Idiot, hat ein schiefes Maul gezogen noch wegen des Nekrologs, den er, Sepp, für Harry geschrieben hat. Und Tüverlin, der die Macht gehabt hätte, dem Jungen zu helfen, ist zu spät gekommen. Es ist eine Gemeinheit vom Schicksal, eine Niedertracht. Wenigstens ist jetzt das Werk und das Andenken Harrys gerettet. Jetzt, nach dem Brief Tüverlins, hat Sepp freie Hand und kann alles daransetzen, den toten Dichter populär zu machen.
    Anna freute sich ehrlich, daß Tüverlin sein Urteil bestätigt hatte. Hanns hatte an dem toten Harry vor allem wahrgenommen, daß er ein schrankenloser Individualist war, ein Egoist, ein Mensch, der sich selber außerhalb des lebendigen Stroms gestellt hatte, ein unnützlicher Mensch, und er hatte seine Geschichten mit Mißtrauen gelesen. Aber er glaubte an Tüverlin, er erbat sich sein Schreiben und las es aufmerksam, und es beschäftigte ihn, daß also dieser tote Harry Meisel trotz seines grenzenlosen Individualismus wirkliche Werte geschaffen hatte.
    Übrigens kündigte Anna ihrer Madame Chaix nicht.
13
Das Gebäck ist gezählt
    Herr Gingold, seinen Redakteuren von jeher unsympathisch, wurde in der letzten Zeit noch unangenehmer. Er nörgelte ohne Unterlaß. Dabei hob er nicht einmal die Stimme, und so laut er zu Hause war, auf der Redaktion hörte ihn kaum je einer schreien; er brachte seine sich häufenden Einwände auf eine leise, höfliche, klagende Art vor, die viel mehr auf die Nerven ging als Geschrei.
    Heute hatte er sich zum Ziel seines Angriffs eine Statistik herausgesucht, die soeben in den »P. N.« erschienen war, eine Zusammenstellung von Gewalttaten, welche die Nazi in den letzten zwei Monaten an Juden verübt hatten. Herr Gingold warf seinem Chefredakteur vor, man habe die Unterlagen nicht in allen Fällen genügend sorgfältig geprüft. Hartnäckig, weinerlich und beharrlich verlangte er, Heilbrun solle seinen Herren noch strengere Vorsicht zur Pflicht machen.
    Heilbrun, der längst gemerkt hatte, daß Gingold es darauf anlegte, ihn in Harnisch zu bringen, nahm sich zusammen, sosehr ihn das ewige Gequengel reizte. Mit Sachlichkeit allein, erwiderte er, komme man gegen die Nazi nicht auf. Man könne nicht nur Argumente bringen, die auf den Verstand, man müsse auch mit solchen operieren, die auf das Gefühl wirkten. Möglich, daß das eine oder andere Ereignis jener Liste nicht zur Evidenz belegt werden könne, aber er halte es für richtiger, dergleichen Statistiken nach oben aufzurunden als nach unten.
    Herr Gingold, leise, tückisch, klagend, ließ nicht locker. Er griff ein Beispiel heraus. Es sei da die Rede von vier Angriffen auf jüdische Friedhöfe. Diese Friedhöfe seien geschändet worden, die Grabsteine umgeworfen, junge Burschen hätten gemeine Inschriften auf Totendenkmälern angebracht, die Gräber besudelt, ihre Notdurft dort verrichtet. Von einem oder zwei solchen Fällen erinnere er sich gelesen zu haben.Aber vier? In den letzten zwei Monaten? Einer seiner Freunde habe ihn, vermutlich um die geringe Glaubwürdigkeit der »P. N.« darzutun, in gespielter Neugier gefragt, welches denn diese vier Friedhöfe seien. Da sei er dagestanden.
    Heilbrun ärgerte sich. Was Gingold erzählte von dem Freund, der sich nach Daten und Beweisen erkundigt habe, war natürlich glatt erfunden. Aber es blieb Heilbrun nichts übrig, als Redakteur Berger, den Autor der fraglichen Zusammenstellung, telefonisch um die Vorlage der Dokumentation zu ersuchen. Berger war gewöhnlich recht zuverlässig; immerhin war es Heilbrun etwas mulmig, während man auf die Unterlagen wartete.
    Aber siehe, nach noch nicht zehn Minuten erschien Redakteur Berger, trocken, hämisch, siegessicher. Es waren wirklich in diesen zwei Monaten vier jüdische Friedhöfe geschändet worden, die von Arnsberg, Öls, Stendal und Weißenburg in Bayern. Bitte, hier die Dokumentation. Selbst Photos konnte Redakteur Berger beibringen, sie waren, nicht ohne Gefahr, aufgenommen und herausgeschmuggelt worden. »Wenn wir«, setzte er auf seine gallige Art auseinander, »seinerzeit die Berichte gar nicht mehr gebracht haben, dann deshalb, weil das Publikum, gewöhnt an solche Meldungen, einfach darüber weggelesen hätte.«
    Redakteur Bergers Aufklärung machte auf den eisenstirnigen Gingold unerwartet starken Eindruck. Hastig strähnte er den viereckigen, grauschwarzen Bart, seine Augen spähten flackerig unter der Brille hervor und vermieden den Blick der andern,

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