Existenz
Schlangenwesen hingegen hatte ihm gedroht, war abfällig und unhöflich gewesen. Das spielte eine Rolle.
Bin schloss zweimal schnell hintereinander die Augen.
Gut.
Geh jetzt ganz dicht ans Fenster heran.
Sieh zur Boje.
Das rechte Auge muss offen bleiben; blinzele nicht damit.
Bin zögerte nur einen Moment und kam der Aufforderung dann nach. Neugier zwang ihn dazu.
Zuerst sah er nur eine Ansammlung von Zylindern mit Aufschriften, das meiste davon Englisch und unverständlich für ihn. Es gab mehrere Öffnungen, Linsen und Apparate, einige von ihnen vermutlich dazu bestimmt, Luft und Wasser zu untersuchen – Teil eines globalen Netzwerks, das eine leidende Welt überwachte. Auf der anderen Seite der Boje bemerkte Bin den Tentakel des Schlangenroboters, der nach einer Schnittstelle für die Übertragung von Daten tastete.
Na schön. Aber was soll jetzt …
Er zuckte fast zurück, als die Szene plötzlich auf ihn zusprang und sich der Zoom auf eine Stelle des nächsten Zylinders richtete. Bildvergrößerung war natürlich nicht neu, wohl aber, wenn sie innerhalb des eigenen Auges stattfand!
Bin blieb so unbewegt wie möglich. Das Implantat schien in der Lage zu sein, seine organische Linse zu manipulieren … und die umgebenden Muskeln zu nutzen, um das Auge auszurichten. Er unterdrückte ein Gefühl von Hilflosigkeit.
Wann hat mein Leben jemals wirklich mir gehört?
Zoomen und ausrichten … Bin stellte fest, dass sich sein ferngesteuerter Blick auf eine der glänzenden, glasigen Stellen richtete, mit denen die Boje tagein, tagaus über den Ozean starrte, ob er glatt war oder von einem Sturm aufgewühlt. Die künstlichen Augen beobachteten alles mit unermüdlicher Geduld und sammelten Daten für das Große Modell der Welt . Plötzlich füllte jene glänzende Linse den rechten Teil von Bins Blickfeld … und er schloss das linke Auge, um sich ganz auf dieses eine Bild zu konzentrieren. Auf sein Universum. Auf eine Scheibe aus beschichtetem optischem Kristall …
… der plötzlich blaugrün aufblitzte! Und was noch verblüffender war: Bin begriff, dass die Farbe aus seinem eigenen Auge kam. Sie sprang durchs Fenster zur Boje, stellte dort einen Kontakt her …
Ich wusste nicht, dass das Implantat zu so etwas imstande ist.
Wahrscheinlich wusste das nicht einmal Dr. Nguyen.
Bin musste sich sehr beherrschen, um nicht zu blinzeln oder zurückzuweichen.
Fast drin.
Aber noch nicht ganz.
Es scheint, dass …
Die schwebenden Zeichen blieben außerhalb des Zooms, waren aber trotzdem lesbar. Ihr Pulsieren brachte Dringlichkeit zum Ausdruck.
… du musst dein Auge
ans Fenster drücken.
Bin zuckte voller Abscheu zurück.
Peng Xiang Bin, du musst.
Bitte tu dies,
oder alles ist verloren.
Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle, und in seiner Magengrube fühlte er plötzliche Leere. Er biss die Zähne zusammen und dachte daran, dass er gegen seine instinktiven Reaktionen ankämpfen musste, die weit in die Evolutionsgeschichte seiner Spezies zurückreichten, bis hin zu Geschöpfen, die zum ersten Mal aus dem Meer an Land gekrochen waren. Es war das schier überwältigende Bestreben, vor Schmerz zurückzuweichen, Verletzungen zu vermeiden. Furcht stand auf der einen Seite …
… und Befehle des Bewusstseins auf der anderen. Der rationale Teil des Gehirns wollte tun, wozu die Worte ihn aufforderten.
Mit zwei Fingern der rechten Hand hielt Bin das Auge offen und drückte es fest ans Glas.
Es tat weh.
Gut.
Nicht ganz so fest.
Bleib so.
Bleib so.
Bleib so.
Bin verharrte reglos, das Auge am Fenster, während grünliche Blitze zwischen seiner Pupille und der Bojenlinse hin und her zuckten. In seinem rechten Auge kam es zu Reflexionen, zu einem wilden Durcheinander aus stiebenden Funken. Einmal schien die verwirrte Netzhaut ein Bild von sich selbst zu empfangen – es zeigte eine Ansammlung von Blutgefäßen und Nervenzellen. Eine endlose Folge von Spiegelbildern, die ihn selbst präsentierten, raubte ihm die Orientierung. In ihnen sah er sich auf eine Weise nackt, die er bisher nicht für möglich gehalten hätte, nackt bis in die Seele.
Und ein anderer Teil von ihm fragte sich erstaunt: Woher weiß ich, was eine Netzhaut ist? Sind dies überhaupt noch meine Erinnerungen?
Schlimmer. Es wurde schlimmer, als die Seeschlange zu merken schien, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Ihre Vibrationen wurden stärker, und ein dumpfes Grollen kroch durch ihren langen Leib. Bin reagierte, indem er sich
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