Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
Altertumszivilisationen nie engen Kontakt pflegte, den dagegen die Quechua- und Aymara-Indianer am Titicacasee hatten. Die Vorfahren der Aymaras hatten die Akapanapyramide und die übrigen Megalithmauern in Tiahuanaco miterbaut, einst das wichtigste Kulturzentrum Südamerikas, das in der Vor-Inkazeit am Ufer des Titicacasees lag. Sie hatten die Riesenblöcke auf Schilfbooten über den See befördert. Sie hatten den Spaniern erzählt, weiße Männer mit Bärten hätten diese Arbeit geleitet und dieses verschwundene Kulturvolk hätte sich auch zuerst mit Schilfbooten dieses Typs gezeigt. Die Aymara-Indianer selbst hatten nie gelernt, Stein zu bearbeiten. Aber sie vermochten bis in unsere Tage, in vollendeter Perfektion Schilfboote zum Fischfang auf dem See zu kopieren.
Sämtliche Teilnehmer der Ra I -Expedition erklärten sich bereit, bei einem neuen Experiment dabeizusein, und Santiago verließ erneut seinen Posten an der Universität von Mexiko, um nach Schilfbootsbauern am Titicacasee zu suchen. In aller Stille baten wir den Italiener Mario Buschi, seine äthiopischen Helfer auf den Tanasee zu schicken, um noch einmal zwölf Tonnen Papyrus zu ernten. Das Schilf aus Äthiopien und die Bootsbauer aus Bolivien sollten unbemerkt nach Marokko befördert werden, wo der Bau in aller Heimlichkeit vor sich gehen sollte, damit ich in Ruhe die Kapitel über Ra I schreiben konnte, was unbedingt sein mußte, um die weiteren Mittel für das Experiment zu beschaffen. Unter dem Decknamen »Bambus« wurden zwölf Tonnen äthiopischer Papyrus im Hafen von Saft entladen und verschwanden. Vier echte Aymara-Indianer und ihr bolivianischer Dolmetscher landeten zusammen mit Santiago auf dem Flugplatz von Casablanca und verschwanden. Segeltuch aus Ägypten, eine fertig geflochtene Korbhütte aus Italien, Holz für Masten und Ruder, Taue in Mengen, alles erreichte Marokko unbemerkt und von den verschiedensten Ecken. Und verschwand.
Am 6. Mai stürzte ein Teil der hohen Mauer um die städtische Baumschule von Safî ein, und zwischen Blumenbeeten und Palmen brach ein großer Bulldozer hervor, gefolgt von einem kleinen, leichten Schiff aus Blumenstengeln, das aussah, als wäre es ganz natürlich aus üppigem Grün gewachsen.
Die Ra II war geboren.
Langsam und würdig kam sie wie ein großer Papiervogel, der aus dem Ei schlüpft, durch die Maueröffnung heraus. Mit majestätischer Würde rollte sie auf Rädern langsam durch enge Straßen, in denen Araber und Berber in Kaftan und mit Umhang und Schleier dicht- nebeneinander standen, um etwas zu sehen. Die Polizei paradierte, und barfüßige Kinder tanzten in der Prozession mit. Eifrige Gärtner und Elektriker hingen an Bäumen und Pfählen und auf der Spitze eines roten Leiterwagens, um zu verhindern, daß Äste und Leitungen die trockenen Papyrusspitzen zerrissen oder anzündeten, die sich vorn und hinten an dem goldenen Paradeboot nach oben bogen, und die Behördenvertreter atmeten erleichtert auf, als das merkwürdige Bauwerk über die Eisenbahnstrecke holperte und zwischen Reihen frisch gestrichener Fischerboote anhielt, die darauf warteten, zum ersten Sardinenfang des Frühlings von Stapel zu laufen.
»Ich taufe dich Ra II« , sagte Aicha, die Frau Pascha Taieb Amaras, und spritzte zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres Ziegenmilch auf ein knochentrockenes Papyrusboot, ehe es auf den Wasserspiegel glitt.
»Hurra!« brüllte das Menschenmeer, das auf dem Kai wogte und klatschte, als sich das sonderbare Fahrzeug wie ein Spielzeugboot aus Papier auf dem Wasserspiegel drehte. Die Mannschaft auf dem Schlepper stand unbeweglich und starrte. Wir, die wir das Ding benutzen sollten, fühlten eine ungeheure Erleichterung. Es war alles nur nach Augenmaß gemacht, und viele waren davon überzeugt, daß es kentern oder sich auf die Seite legen würde. »Hurra!!«
Aber was war das? »Stop! Hilfe! Ai-ai-ai!« Ein verzweifelter Schrei des Menschenmeeres. Panik auf dem Schlepper. Eine gewaltige Sturmbö jagte unerwartet über den Berg, wirbelte das Papierboot herum und trieb es in atemberaubender Geschwindigkeit vom Schlepper weg, direkt auf die vier Meter hohe Mole aus massivem Stein zu. Schreie und Gejammer, auf französisch und arabisch gebrüllte Befehle, Gesichter hinter vorgehaltenen Händen - Presseleute sprangen mit Kameras hinaus, teils um zu knipsen, teils um es abzustoßen, und dann drehte sich das eben getaufte Boot herum und rannte seinen aufgerichteten Schwanz mit voller Wucht direkt
Weitere Kostenlose Bücher