Export A
Vor mir auf dem niedrigen, eckigen Sofatisch, dessen Beinstümpfe in der Dunkelheit versumpfen, steht ein brillantgelber Pappkarton. So durch und durch gelb, dass er den Sieg davonträgt gegen die Dunkelheit und ihr ein kleines, kubusförmiges Leuchten, einen aufgehellten Fleck, abringt.
Auf der mir zugewandten Seite lese ich meinen Namen in den vertrauten Bögen und Schwüngen der Handschrift meiner Mutter.
Meine Hand schließt sich fester um das kleine, dickwandige Glas.
Nach einiger Zeit wehren sich Daumen und Handfläche mit krampfartigen Zuckungen gegen den Klammergriff.
»Ah! Damn it …«
Ich lasse das Glas los und öffne meine geballte Rechte. Gläsernes rollt über Hölzernes. Die Pappwand hält es auf. Mit dem linken Daumen massiere ich die Lebenslinien und Fingerglieder meiner Schreibhand. Ich lockere die Hand, lasse sie vom Gelenk baumeln. Nervige Scheiße.
Tyler redet unterdessen ungerührt weiter. Zwischen den Sätzen wandert seine linke Hand in mein Osterpäckchen. Seine Finger rascheln tastend durch Verpackungsschnipsel und erbeuten kunterbunte Eier verschiedenster Größe.
Erstaunlich geschickt befreit er die Schokoladen einhändig aus der silbrig-glänzenden Aluminiumhülle. Bloßgelegtes Braunes kullert über den Rand der rosa Mundspalte, verschwindet und verschmilzt im Dunkeln.
Die Erzählung wird heftiger, lauter. Jeder Satz endet mit einem ovalen, süßen Punkt. Nur sein Gesicht bleibt bitter.
In den langen, gedehnten Kunstpausen führt er die Flasche zum Mund und trinkt. Trinkt, setzt ab und betrachtet kopfschüttelnd den klaren, zur Neige gehenden Flascheninhalt, bevor er weiterspricht.
Eingelullt von seiner an- und abschwellenden Sprachdynamik sitze ich da und beobachte den Rhythmus aus Schokolade, Schlucken, Schreien, Schnaps, Schütteln; Ei, Essen, Erzählen, Exen, Erschaudern; Füllung, Fressen, Flüstern, Flasche, Fixieren; Alpenmilch, Abbeißen, Anklagen, Ansetzen, Anschauen … Gramm für Gramm, Milliliter für Milliliter. Schokolade und Schnaps geben ständig neue Anstöße. Die Worte fallen wie Dominosteine.
Meine Augen suchen nach Beschäftigung. Ich lasse sie Mutters Buchstaben auf dem Osterpäckchen abtasten. Erlaube ihnen, das E, das L, das I und alle folgenden Zeichen, aus denen sich mein Name zusammensetzt, zu streicheln. Wieder und wieder lese ich mich. Elisabeth Kerz, Elisabeth Kerz, Elisabeth Kerz.
Das führt doch zu nichts!
Ich fühle mich nicht allein. Alleinsein ist nur eine Zustandsbeschreibung, denke ich trotzig. Außerdem ist ja jemand da. Tyler ist da.
Zumindest körperlich ist er da. Innerlich ist er weit in die Vergangenheit abgerückt. Zu seinem Vater und seinen Hoffnungen. Zum Boxtraining. Zu dem vielversprechenden Talent, das er einst war …
Vor mir steht das gelbe Zeichen. Sie denken an mich. Irgendwo, jenseits des Atlantiks, denken sie an mich. Sie denken an Elisabeth Kerz. Keine Ahnung, wer das sein soll. Ich hätte mich weigern sollen, dieses Paket entgegenzunehmen. Tut mir leid, aber dieses Mädchen existiert nicht mehr, hätte ich sagen sollen.
Die Quintessenz von Tylers Gerede betrifft auch mich, oder vielmehr: SIE, diese Elisabeth Kerz, die ach-so-vielversprechende Schülerin von damals, deren Namen ich mit mir herumschleppe.
Wie sehr, wie zuversichtlich haben wir alle auf sie gebaut! Was wurde nicht alles erwartet, von Eltern, Lehrern, Pastoren und mir selbst …
Ich bin davon abgerückt. Daheim würden sie sagen »abgekommen«. Vom Weg abgekommen. Jetzt sitze ich hier. Abgetrennt und abgeschieden.
Einsamkeit. Das ist das Wort.
Fuck it, dann muss ich mir eben selbst Gesellschaft leisten.
Scheiß doch auf diesen Namen. Ich werde jedem Buchstaben einzeln zuprosten!
Ein E, ein Shot.
Ein L, ein Shot.
Ein I, ein Shot, und so weiter.
Ich werde wärmer und konzentriere mich wieder auf Tylers Geschichte. Versuche teilzunehmen, zuzuhören.
Er spricht von seiner Angst. Der Angst vor den trockenen Nächten, wenn seine Blutkörperchen zu Abertausenden zinnoberroten Spinnmilben mutieren. Kleine, saugende Krabbler, die sich massenhaft verbreiten und seine Zellen befallen. Spinnentiere, deren Beine sich wie Nadeln durch seine Adern und Hautschichten bohren, sein Körper ein anschwellendes Wimmeln, zum Bersten angefüllt, bereit zu platzen und sich über die Matratze zu ergießen. Vor dem Bett, in dem es zittert und schwitzt, steht eine schwarze, zwergenhafte Gestalt. Sie spricht mit tausend Stimmen. Mal wie sein Vater, mal wie die
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