Extra scha(r)f
Karls Videosammlung, über meine Schwester, die mich zur Mörderin eines ungeborenen Babys macht, und natürlich über den bevorstehenden Drehtermin. Aber ich habe letzte Nacht nicht nur Probleme gewälzt. Meine Schwägerin Soulla stand nämlich vor der Niederkunft.
Als ich von Karls Wohnung nach Hause zurückkehrte, war es erst halb zehn. Emily hatte sich bereits schlafen gelegt. Ich klopfte leise an ihre Tür, aber sie reagierte nicht. Offenbar hatte sie keine Lust zu reden, was ich gut verstehen konnte, da ich ebenfalls keine Lust dazu hatte. Meine Eltern waren da, wo sie immer zu finden sind. Mum blickte nur kurz von ihrem Femseher auf, und Dad erwähnte, dass er mit einem Pizzaboten Streit hatte. Da gelingt es ihm endlich einmal, sich Essen ins Haus liefern zu lassen, und dann kann er es nicht lassen, mit dem Boten Streit anzufangen. Unglaublich.
»Und warum hast du dich mit dem Pizzaboten gestritten?«, fragte ich.
»Weil ich nicht habe bestellt die verdammte Pizza, darum. Die Bote sich hat geirrt in die Adresse!«
Danach sagte ich Gute Nacht und ging nach oben. Ich spielte mit dem Gedanken, Sasha anzurufen, um ihr das Ganze noch einmal zu erklären und ihr vielleicht von den Videokassetten zu erzählen. Aber ich hatte zu viel Angst, dass sie mich dafür ebenfalls verantwortlich machen würde, also ging ich ins Bett. Aber ich fand keinen Schlaf. Wie soll man auch schlafen können, wenn man ständig die Bilder von sich selbst in einem privaten Porno vor Augen hat, in dem dazu noch Englands Antwort auf Pornohengst Seymour Butts mitwirkt?
Irgendwann nach zwei Uhr nickte ich schließlich ein. Gleich darauf hörte ich unten in der Diele das Telefon klingeln, und eine knappe Minute später hämmerte mein Vater an meine Zimmertür. »Steh auf, schnell!«, brüllte er. »Wir müssen sofort los. Alle sofort aufstehen! Beeilung, Beeilung!«
»Ich stehe nicht auf«, rief ich zurück. »Ich muss morgen arbeiten.«
»Deine Bruder bekommt seine Baby. Du kommst mit, und wenn ich dich muss schleifen an deine Haare!«
In unserer Familie wird Gemeinschaft groß geschrieben. So erleben wir zum Beispiel gemeinsam Picknicke, ansteckende Krankheiten und Geburten. Der Anlass kann noch so unbedeutend sein, wir Charalambouses machen ein Riesenevent daraus. Vor ein paar Monaten übernachtete Emilys Freundin Alicia in unserem Haus. Alicia stand mitten in der Nacht auf, um sich ein Glas Wasser zu holen, und Dad, der schon beim kleinsten Geräusch wach wird, war mit einem Satz aus dem Bett. Natürlich weckte er das ganze Haus auf. »Ist okee, Alischa nur hat Durst!«, brüllte er und schlug zuerst gegen meine Zimmertür, dann gegen Emilys. »Ist alles okee, Emily deine Freundin nur will trinken eine Wasser. Schlaf weiter.«
Seitdem hat Alicia uns nie wieder besucht, wen wundert es. Gut, dass sie nicht gestern bei uns übernachtete, sonst wäre sie mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt worden, um zum North Middlesex Hospital zu fahren. »Das steht dir in weniger als neun Monaten ebenfalls bevor, wenn du dein Problem nicht vorher löst«, raunte ich Emily zu, während Dad eine Rechtskurve nahm, als wolle er sich als Fluchtfahrer für den nächsten Film von Guy Ritchie bewerben.
»Leck mich«, gab Emily flüsternd zurück.
Das Krankenhauspersonal machte keinen erfreuten Eindruck, als wir anrückten. Verständlich, da bereits Soullas gesamte Verwandtschaft vor Ort war, zusammen mit ein paar Nachbarn, deren Verwandten und Bekannten sowie ein paar Obdachlosen, die sie auf dem Weg in die Klinik aufgegabelt hatten. Eine richtige Menschenansammlung. Und natürlich hatten sie reichlich Essen mitgebracht. Typisch griechisch - Unmengen von Proviant mitzunehmen, wohin man auch geht (»Du willst zu die Laden an die Ecke? Ich brate schnell dir eine Hähnchen für die Weg.«) Ich war überrascht, dass wir nicht rausgeworfen wurden. Ich hörte zufällig, wie eine der Schwestern zu ihrer Kollegin sagte: »Griechen.« Das war wohl Erklärung genug.
Kaum waren wir auf der Station angekommen, stürzte Tony aus dem Kreißsaal, mit hochrotem Gesicht, nach Luft schnappend. Es gelang ihm hervorzustoßen: »Sie ist unglaublich, Papa. Eine ganz natürliche Geburt.«
Das war nicht zu überhören. Wahrscheinlich war Soullas Gebrüll noch in Moskau zu vernehmen. Das meinte mein Bruder also mit »natürlicher Geburt«. Hier war kein Verstärker nötig - so eine Art Geburt Unplugged . Während wir im Wartezimmer saßen, musterte ich Emily. Ihr Gesicht war
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