Extra scha(r)f
Gespräch eine falsche Wendung nahm, damit Sasha endlich die Wahrheit kapiert.
»Sasha, ich hatte keinesfalls vor, dir deinen Freund auszuspannen, ich schwöre es«, sage ich und fahre mir mit der Hand über die Augen. »Mir kam dieser Verdacht zum ersten Mal gestern, und er hat sich erst bestätigt, als du mir vorhin von Ben erzählt hast.«
»Also gut. Warum hören wir uns nicht einfach an, was er dazu zu sagen hat?«, meint sie und holt ihr Handy hervor.
»Du kannst ihn momentan nicht erreichen«, sage ich.
»Ach, welch ein Zufall. Und warum nicht?«
»Er liegt im Krankenhaus.«
Ich erzähle ihr von Karls Unfall.
»Um Gottes willen, er könnte tot sein«, stößt sie hervor. »‘Kein Wunder, dass mein armer Schatz mich heute Morgen nicht angerufen hat.«
Mein armer Schatz? Ich kann es nicht glauben. Ist Sasha derart von dem Kerl besessen, dass sie mir die ganze Schuld in die Schuhe schiebt, während dieser Womanizer ungeschoren davonkommt? »Sasha, du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass du dir um dieses Schwein Sorgen machst?«, frage ich entsetzt.
Ihre Augen füllen sich erneut mit Tränen, und sie trinkt trotzig ihr Bier aus. »Ich weiß gar nichts mehr«, entgegnet sie, streift ihre Haare zurück und steht auf. »Ich weiß nur, dass ich dich hasse. Wie konnte ich nur so dumm sein und glauben, dass du meine Freundin bist? Du bist eine miese Lügnerin und total egoistisch und ... und deine Haarverlängerung sieht beschissen aus.«
An dem Tisch hinter mir wird gekichert, während Sasha davonstapft.
Ich glaube, so miserabel habe ich mich noch nie gefühlt.
Eigentlich kann es nicht schlimmer kommen.
Oder doch?
Das bisschen, in dem meine Mutter umschaltet (und damit ist ausnahmsweise nicht die Glotze gemeint)
Natürlich kann es schlimmer kommen.
»Mum, was redest du da?«, brülle ich. »Was ist denn plötzlich in dich gefahren?«
»Nun, Charlie, sieh den Tatsachen ins Auge. Du wirst bald fünfundzwanzig.«
»Ach, und das ist schon alt oder wie?«
»In deinem Alter war ich längst verheiratet ... und hatte bereits mein erstes Kind.«
»War das der Zeitpunkt, als du den Spaß am Leben verloren und beschlossen hast, vor der Glotze zu versauern?«
»Charlie!«
»Tut mir Leid ... Ich will damit nur sagen, dass man heutzutage nicht mehr so jung heiraten muss. Schließlich leben wir im London des einundzwanzigsten Jahrhunderts und nicht in einem zyprischen Bauernkaff, wo es normal ist, wenn man mit zwölf verlobt und mit vierzehn verheiratet wird.«
»Red nicht solchen Unsinn. Nicht mehr lange, und du bist ein Vierteljahrhundert alt.«
»Du tust ja gerade so, als würde ich ins Altersheim gehören.«
»Du musst endlich anfangen, dich deinem Alter gemäß zu verhalten, Charlotte, und dir ernsthaft Gedanken über deine Zukunft machen. Weißt du, das Leben ist kurz, und ehe du dich versiehst, bist du alt und grau.«
Ich sehe meine Mutter an und erkenne sie nicht wieder. Früher - also vor circa einer Woche - hätte es so eine Auseinandersetzung nicht gegeben. Früher hat mir meine Mutter immer gepredigt, das Leben zu genießen, weil es so kurz sei. Als ihre Mutter vor zwei Jahren starb, war Mum untröstlich. Ich erinnere mich, dass wir am Morgen der Beerdigung in der Küche bei einem Tee saßen, nur sie und ich. »Am Anfang hast du noch alle möglichen Wünsche und Träume«, sagte sie, trauriger, als ich sie jemals erlebt habe. »Du glaubst, du kannst alle diese Träume verwirklichen, weil du etwas Besonderes bist, anders als alle anderen. Du glaubst, dass ein großartiges Leben vor dir liegt. Aber dann merkst du eines Tages, dass deine Träume niemals wahr werden, weil sie sich sonst bereits erfüllt hätten. Du hast den Moment verpasst, ohne dass es dir bewusst war.«
Es war so bewegend, dass ich überlegte, ob diese Rede vielleicht aus der gestrigen Folge von Corrie stammte. Ich hoffte es. Ich wollte nicht, dass die Trauer und Verzweiflung meiner Mutter echt waren. »Aber deine Träume haben sich doch erfüllt, nicht wahr, Mum?«, fragte ich hoffnungsvoll.
Wir wurden von Dad unterbrochen, der in diesem Moment den Kopf durch die Küchentür steckte und rief: »Beeilung, Beeilung, wir sonst kommen su spät«, obwohl die Beerdigung erst in zwei Stunden angesetzt war. Feinfühlig, wie mein Vater ist, fügte er hinzu: »Wo ich finde meine schwarze Schuhe, Maevou?«
Meine Mutter lächelte mich zaghaft an. »Genieße dein Leben in vollen Zügen, Charlie. Verpass nicht deine Chance.«
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