Fahr zur Hölle
Stoßkanten, was auf ein Alter um die fünfunddreißig hindeutete.
Die Epiphysen, kleine Rundungen am Brustbeinende der Schlüsselbeine, verschmelzen irgendwann zwischen dem achtzehnten und dreißigsten Lebensjahr mit dem Knochenschaft. Beide Epiphysen unseres Unbekannten waren fest mit den Schlüsselbeinen verbunden.
Unter dem Strich: Meine erste Einschätzung war ziemlich präzise. Der Unbekannte war aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem vierten Lebensjahrzehnt, als er starb.
Ein bisschen alt für Cale Lovette, aber nicht unmöglich.
»Also«, sagte ich, zog die Handschuhe aus und warf sie in den Müll. »Das ist wahrscheinlich nicht Lovette.«
»Wer ist Lovette?«
Hawkins stand am Spülbecken und zog eben die Schürze aus. Ich erzählte ihm von den Vermissten von 1998.
»Kann mich nicht erinnern, je von denen gehört zu haben.« Er klang ziemlich barsch.
»Anscheinend hat das niemand. Wie auch immer, Galimore wird sich freuen.«
Hawkins warf seine zusammengeknüllte Schürze in die Richtung des Sondermülleimers. Sie prallte vom Rand ab und landete auf dem Boden. Er machte keine Anstalten, sie aufzuheben.
»Haben Sie Probleme mit Galimore?«, fragte ich.
»Und ob ich Probleme mit Galimore habe.«
»Wollen Sie darüber reden?«
»Dem Mann kann man nicht trauen.« Sein Mund war verkniffen, als hätte er etwas Bitteres gegessen.
»Meinen Sie sein Alkoholproblem?«
»Damit kann man genauso gut anfangen wie mit irgendwas anderem.«
Hawkins ging zum Mülleimer, drückte das Pedal mit dem Absatz nach unten, hob die Schürze auf und warf sie hinein. Dann ließ er den Deckel zuknallen und marschierte aus dem Saal.
Nachdem ich mich umgezogen hatte, machte ich mich auf die Suche nach meinem Chef. Er war nicht an seinem Schreibtisch, nicht in der Küche, nicht vorn im Foyer und auch nicht im großen Autopsiesaal.
Ich kehrte in mein Büro zurück, schrieb für Larabee eine Notiz über meine bestätigte Altersschätzung und verließ das Institut.
Der Nachmittag bot das typische Schmuddelwetter dieser Jahreszeit. Der Himmel war grau wie Zinn, die Gewitterwolken dunkel und fett wie überreife Pflaumen.
Auf der Heimfahrt dachte ich über den Mann im Asphalt nach. Hatte ihn irgendjemand als vermisst gemeldet? Wann? In Charlotte oder woanders? War eine Freundin oder Frau oder ein Bruder auf ein Revier gegangen, hatte ein Formular ausgefüllt und auf einen Anruf gewartet, der dann nie kam?
Mein Bauch sagte mir, dass der Mann schon Jahre in der Tonne zugebracht hatte. Ich überlegte: Gab es da jemanden, der immer noch wartete? Oder hatten diejenigen, die ihn gekannt hatten, ihn längst vergessen und einfach ihr Leben weitergelebt?
Der erste Tropfen traf meine Windschutzscheibe, als ich vor dem Annex hielt. Ich schloss eben das Auto ab, als ich den Ford Crown Vic sah, der etwa zehn Meter entfernt vor der Remise stand. Die Türen öffneten sich.
Zwei Männer stiegen aus. Beide trugen dunkle Anzüge, blaue Krawatten und blendend weiße Hemden. Ich sah die beiden auf mich zu kommen.
»Dr. Brennan?«
»Wer will das wissen?«
»Ich bin Special Agent Carl Williams.« Williams zeigte seine Marke. Er war klein und kompakt, hatte eine Haut wie Mahagoni und spektakulär breite Nasenflügel.
Ich schaute Williams’ Marke und dann seinen Begleiter an.
»Bei mir ist Special Agent Percy Randall.«
Randall war groß und blass und hatte weit auseinanderstehende graue Augen und eine Stoppelfrisur. Er nickte leicht.
Ich wartete mit dem Schlüssel in der Hand.
»Ich nehme an, Sie wissen, warum wir hier sind.« Während Williams das sagte, musterte Randall mich eingehend.
»Ich habe keine Ahnung.« Hatte ich wirklich nicht.
»Vor zwei Tagen haben Sie auf der Mülldeponie an der Morehead Road eine Leiche geborgen.«
Weder bestätigte ich diese Feststellung, noch leugnete ich sie.
»Sie stellen Fragen nach Cindi Gamble und Cale Lovette.«
Das hatte ich nicht erwartet. Hatte Wayne Gamble das FBI angerufen? Slidell? Galimore? Woher sollte Galimore wissen, nach welchen Namen ich mich erkundigte?
»Was wollen Sie?«, fragte ich.
»Uns geht die Frage nicht aus dem Kopf, ob der Mann von der Deponie vielleicht Cale Lovett ist.«
»Ich bin nicht befugt, über Akten des Medical Examiner zu reden. Da müssen Sie mit Dr. Larabee sprechen.«
»Wir versuchen die ganze Zeit, ihn zu erreichen. Aber wir hoffen, dass Sie uns derweil ein wenig Lauferei ersparen können.« Williams machte etwas mit seinem Mund, das ein Lächeln hätte
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