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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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die
älteren Jahrgänge jedenfalls - waren damals nicht niederohmig, die
entsprechenden Verstärkerausgänge brummten tatsächlich noch unter der
Gleichstromkraft von genau hundert Volt.
    Wir
feuerten begeistert auch die Techniker an, die nebenbei pausenlos zu tun
hatten. Manchmal löteten sie sogar bei laufendem Konzert an den durchgebrannten
und verstummten Teilen der Apparatur. Und wenn sie nicht weitere Kurzschlüsse
verursacht hatten und aus einem der Lautsprecher plötzlich wieder Kanonendonner
kam, konnten wir ihnen in ihre glücklichen Augen blicken. Diese ganze sich wie
aus dem Nichts reproduzierende Realität nahm irgendwann auch mir die Reste
meiner Zurückhaltung - und aus meinem Hals kam tierisches Brüllen. Uns allen
war längst deutlich, daß dies genau das war, was der Welt aktuell verkündet
werden mußte - und klarer ließ sich die Botschaft nicht artikulieren. Die Kraft
war bei uns, und wir wußten, daß sie jederzeit wieder freigetanzt, freigelacht
und als eine zusammengeballte Sprengladung eingesetzt werden konnte. Von da an
wußten wir außerdem, daß das Leben noch viel mehr zu bieten hatte, als wir uns
bislang hatten einreden lassen. Das Loslassen fiel uns leicht, irgendwelche
Einführungskurse hatten wir nicht nötig. Als wir nach denKonzerten nach Hause
gingen, sahen wir uns gegenseitig keinesfalls befremdet an. Es war nachmittags,
wir waren nüchtern. Wir waren allerdings dreckig, heiser und verschwitzt -
trotzdem voller Schönheit. Und wir waren alle noch am Leben.
    Im Laufe
der Jahre wurde langsam klar, daß sich in unserer Gemeinschaft nicht nur die
Stärksten und Lebendigsten zusammengefunden hatten, sondern auch die
Gefährdeten. Einige, die in der Clique weich aufgehoben gewesen waren, wurden
später leicht bis schwer verrückt, zwei von unseren Mädchen nahmen sich
unabhängig voneinander und in schneller Folge das Leben - wenige Jahre, nachdem
die Clique auseinandergefallen war.
    Als sie
noch alle da waren, liefen die Mädchen manchmal in einer Reihe vor uns - mitten
auf der Straße. Wenn keine von ihnen fehlte, waren es sechs. Und im Sommer,
wenn sie alle Miniröcke anhatten, bewegten sich vor uns zwölf wunderschöne
schlanke Beine. Manche waren gerader als andere, manche drückten sich im
Kniegelenk mehr nach hinten als andere, nicht alle trugen den Schwerpunkt des
zu ihnen gehörenden Oberkörpers genauso würdevoll und harmonisch, wie man es
ihnen gewünscht hätte. Vollkommen waren sie trotzdem alle. Und ich weiß noch,
daß ich damals schon rätselte, wieso man so etwas wie die Rückseite eines Knies
überhaupt als schön empfinden kann; ausgerechnet die - besonders harten
funktionalen Zwängen unterworfene - Quetsch- und Biegezone eines Gelenks, das
unter Ärzten als »vom Gott im Zorn erschaffen« gilt. Links und rechts sieht man
dort - also an dieser abgewandten und wenig beachteten Schattenseite des Knies
- zwar stolzsehnige Muskelstränge, der Rest wird dagegen lediglich von einem
etwas plumpen und wulstigen Mittelteil gebildet.
    In der
abschüssigen Seitenstraße des Diplomatenviertels gab es wenig Verkehr, die
Mädchen, ihre Beine, Hüften.Schultern, ihre Füße, deren Spitzen so
unterschiedlich schräg nach außen gerichtet waren oder - was damals modisch war
- leicht nach innen zeigten, hatten die ganze Straßenbreite in der Regel für
sich allein. Durchfahrende Autos zwangen uns ab und an zu trägen
Ausweichmanövern, konnten unsere Formation aber nur kurzzeitig
durcheinanderbringen, manche Automobile - die Sterne des damaligen
Designhimmels - lenkten uns dagegen unanständig stark ab, verwirrten uns
regelrecht erotisch. Die Eleganz des Citroen DS war verstörend, da dieses Auto
offensichtlich von Männern gebaut worden war, die nicht nur in ihrem
Arbeitsleben permanent verliebt waren. Ganz andere Gefühle provozierte dagegen
die tiefliegende Kraft des Mercedes 230 SL. Es war der W 113er - das noch nie
dagewesene Wunder mit dem an den Seiten nach oben gewölbten »Pagodendach«. Wenn
seine Reifen mit Spikes beschlagen waren, klirrte es auf den bräunlichen
Katzenköpfen der Pflastersteinstraße wie auf einer Tanzfläche mit zwei Dutzend
Stepptänzern.
    Ich glaube
nicht, daß ich etwas verzerre, wenn ich im Zusammenhang mit diesen Prager
Jahren dauernd von Erotik spreche. Prag war schon seit meiner zarten Kindheit
einfach voll von Zeugnissen und Spuren, die einen wie grelle Blinksignale
aufschreckten und den Alltagsgleichlauf mit Synkopen durchsetzten. Alles,

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