Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
Trompete von Jericho nicht gerade auf vertrautem Fuße, aber meinetwegen, ich werde es mir noch mal überlegen. Morgen entscheiden wir, was wir mit ihm machen«, lenkte er ein, fesselte ihn an ein Rad des Wagens und holte dann einen Blechlöffel sowie ein Ei.
Tobias sah ihm verwundert zu. »Was willst du denn damit?«
»Sehen, wie sehr er an seinem armseligen Leben hängt«, antwortete Sadik, schob Nepomuk Mahn den Löffel mit dem Stiel in den Mund und legte das Ei in die Löffelmulde.
»Schön mit den Zähnen festhalten, Bruder! Wenn das Ei morgen noch auf dem Löffel liegt, werden wir Gnade walten und dich am Leben lassen. Ist der Löffel dagegen leer – na ja, dann hast du wenigstens noch den neuen Morgen erlebt.«
Nepomuk Mahn gab einen erstickten Laut von sich, spannte die Wangenmuskel an und starrte wie hypnotisiert auf das Ei. Tobias glaubte fast sehen zu können, wie ihm der Angstschweiß ausbrach, das Ei könnte ihm vom Löffel rollen.
»Und was ist, wenn das Ei morgen in seinem Schoß liegt?«, wollte Tobias wissen, als er sich neben Sadik wieder in seinen Umhang wickelte.
»Das Ei liegt auch morgen noch auf dem Löffel«, versicherte Sadik. »Es wird die längste Nacht seines Lebens, aber er wird jede Sekunde so hellwach sein wie nie zuvor.«
»Und was machen wir morgen mit ihm?«
»Schreite nicht über eine Brücke, bevor du sie erreichst. Jetzt weiß ich nur eins: Er wird nicht die Strafe erhalten, die er verdient hat.«
»Aber bestrafen wirst du ihn?«
»Wer Honig essen will, der ertrage das Stechen der Bienen. Bruder Nepomuk war ganz versessen auf Honig. Morgen kommt die Stunde der Bienen«, antwortete er rätselhaft und drehte sich auf die Seite.
Tobias konnte lange nicht schlafen, obwohl er hundemüde war.
Immer wieder hob er den Kopf und blickte zum Wagen hinüber, wo Nepomuk Mahn aufrecht ans Wagenrad gefesselt saß. Mittlerweile stand der zunehmende Mond wie eine abgegriffene Silberscheibe über den Baumspitzen und deutlich konnte er den Löffel im Mund des falschen Wanderpredigers sehen. Das Ei leuchtete wie eine Kreidekugel. Und ihm war so, als könnte er auch die von Todesangst geweiteten Augen sehen, die das Ei auf der Löffelspitze starr fixierten. Mitleid regte sich in ihm.
Diese Nacht sollte Strafe genug sein, ging es Tobias durch den Sinn, bevor er endlich in einen unruhigen, alptraumhaften Schlaf versank.
Sadik hatte sich nicht geirrt. Das Ei lag noch auf dem Löffel, als der Tag anbrach. Die Stunden der Angst standen Nepomuk Mahn auf dem Gesicht geschrieben. Es glänzte vor kaltem Schweiß.
»Also gut, die Trompete von Jericho wird nicht verklingen, aber ein paar schrille Töne werden wir ihr noch entlocken«, meinte Sadik und ließ sich auch von Tobias nicht davon abbringen, ihn zu bestrafen – nach seinem Verständnis sogar ausgesprochen milde.
Er schnitt sich eine biegsame Weidenrute ab, und dann musste Nepomuk Mahn seine Füße entblößen. »Nein! Nicht! Wie soll ich denn laufen?«, bettelte er.
»Du wirst nicht nach Bischofsheim laufen, Bruder Nepomuk!«, beschied Sadik ihn unerbittlich. »Du wirst einen Bußgang tun und auf Knien rutschen! Die Liste deiner Sünden und Verfehlungen ist sicher länger als der Weg von hier nach Bischofsheim. Und nun beiß auf das Stück Holz da! Für jeden lauten Schrei gibt es einen Schlag zusätzlich!«
Tobias entfernte sich, weil er es nicht mitansehen konnte. Er ging zum Teich hinunter und versuchte nicht auf das scharfe Klatschen der Weidenrute und die unterdrückten Schreie von Nepomuk Mahn zu achten.
Zwölf Schläge zählte er.
Wimmernd lag Nepomuk im Gras. Sadik schwieg, fiel Tobias aber nicht in den Arm, als dieser eine alte Blechschüssel mit Wasser füllte und saubere Tücher zum Verbinden der blutigen Fußsohlen dazulegte. Dann schwang er sich zu Sadik auf den Kutschbock. Keinem von ihnen war nach Essen zumute.
»Wir stellen den Wagen in Bischofsheim im ersten Stall unter, der an der Straße liegt. Man wird dich dort erwarten, Bruder«, ermahnte Sadik den Wanderprediger scharf. »Und zwar auf den Knien, Trompete von Jericho! Wir werden das beobachten. Solltest du dich von irgend jemandem mitnehmen lassen oder dich sonstwie vor deinem Bußgang drücken, wirst du dir wünschen, lieber dem Satan als uns begegnet zu sein!«
»Der HERR ist mein Zeuge, ich werde büßen«, beteuerte Nepomuk Mahn mit zitternder Stimme.
Sadik schnalzte mit der Zunge und der Wagen setzte sich in Bewegung. Sie fuhren eine Weile schweigend.
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