Falkenhof 03 - Im Banne des Falken
langsam verstrichen. Dagegen war Sadik die Gelassenheit in Person. Er hockte auf seinem kleinen Gebetsteppich und las im Koran. Als Tobias wieder einmal von seinem Bett aufsprang, zum Fenster ging und zum x-ten Mal den Deckel seiner Taschenuhr aufklappen ließ, sah der bàdawi vom Koran auf.
»Er kommt – oder er kommt nicht, Tobias. Also lauf nicht ständig wie ein kopfloses Huhn herum, sondern beschäftige dich mit etwas, was dich ablenkt«, riet er ihm. »Nimm ein Buch zur Hand. Ein Buch …«
»… ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt«, beendete Tobias den Satz für ihn und verzog dabei das Gesicht. »Ich weiß, aber im Augenblick ist mir verdammt nicht nach einem Spaziergang durch irgendeinen Garten zu Mute!«
»Versuche es. Du wirst sehen, wie rasch dann die Zeit vergeht.«
»Jetzt lesen? Wo so viel auf dem Spiel steht?« Heftig schüttelte Tobias den Kopf. »Unmöglich!«
»Du hast es ja noch gar nicht versucht.«
»Ich weiß, dass es nicht funktionieren wird.«
Sadik seufzte. »Eigensinn ist die Energie der Dummen«, zog er ihn auf.
»Und besser ein Stummer, der verständig ist, als ein Redender, der aufdringlich ist!«, antwortete Tobias ihm schlagfertig.
Ein vergnügtes Lächeln umspielte Sadiks Mundwinkel. »Wenn mich nicht alles täuscht, zitierst du da eine Weisheit von Scheich Abdul Kalim, den ich überaus schätze. Nur ziehe ich seine Originalfassung deiner Variante vor, in der nicht von ›aufdringlich‹ die Rede ist, sondern von ›töricht‹.«
Tobias grinste ertappt. »Und wenn schon! Du drehst dir deine
Sprüche doch auch immer so zurecht, wie du sie gerade brauchst. Gib es doch zu!«
»Scheich Abdul Kalim würde dazu sagen: ›Das Wohlergehen des Menschen beruht im Bewahren seiner Zunge‹«, entgegnete Sadik mit leichtem Spott. »Und ein weiser Mullah hat einmal zu mir gesagt, als ich etwa so jung war wie du: ›Zwei Schilfrohre trinken aus einem Bach, und doch kommt dabei nicht dasselbe heraus. Denn das eine ist hohl, das andere ist Zuckerrohr‹.«
Tobias stemmte die Fäuste in die Hüfte.
»Reizend, Sadik! Da hast du mal wieder prächtig tief in deinen Bauchladen sinniger Sprüche gegriffen. Ein bisschen sehr tief, wie mir scheint. Zumindest hast du mich bis jetzt noch nie mit einem hohlen Rohr verglichen!«
»Es kommt immer darauf an, was man aus Dingen macht, die einem nicht gefallen«, meinte Sadik herausfordernd.
»Wie meinst du das?«, fragte Tobias und merkte gar nicht, wie geschickt der Beduine ihn in ein freundschaftliches Streitgespräch verwickelte und so von Kapitän Leon und der Alouette ablenkte.
Sadik antwortete ihm mit einer kleinen Geschichte. »Es war einmal ein Affe, der warf nach einem hungrigen Derwisch eine schwere Kokosnuss. Er traf ihn damit auch am Bein. Doch statt auf den Affen zu schimpfen und verärgert zu sein, nahm er die Nuss, labte sich an der köstlichen Milch, aß das frische Kokosfleisch und bearbeitete die Nuss, sodass er einen praktischen Becher hatte.«
Tobias lachte. »Mir ist ein Rätsel, woher du all diese Geschichten und Weisheiten herholst, Sadik.«
Sadik lächelte. »Allah kherim! … Allah ist großzügig und er hat mir die Gabe geschenkt, nicht nach dem faden Reichtum des Geldes zu streben, sondern nach dem des Wissens. Dazu fällt mir übrigens die Geschichte mit dem Nilpferd ein …«
Natürlich wollte sich Tobias diese Geschichte nicht entgehen lassen und es blieb nicht bei dieser einen. Jana und Gaspard gesellten sich kurz darauf zu ihnen, was dazu führte, dass Sadik ihnen noch mehrere arabische Rätsel stellen musste.
Erst als ein dumpfes Donnergrollen in der Ferne über die Küste rollte, brach der Bann. Mit Verwunderung und dann Erschrecken bemerkte Tobias, dass sie im Zimmer schon in völliger Dunkelheit saßen.
Er sprang auf. »Um Gottes willen! Wir sitzen hier und reden und verpassen darüber vielleicht Moustique und Kapitän Leon!«, rief er und riss seine Taschenuhr heraus.
»Noch ist Zeit«, beruhigte ihn Sadik. »Es ist nicht später als zehn nach neun.«
»Stimmt!«, stieß Tobias nach einem Blick auf das Ziffernblatt ungläubig hervor. »Mein Gott, woher kannst du ohne Uhr die Zeit so genau bestimmen?«
»Allah kherim«, antwortete Sadik nur mit einem geheimnisvollen Lächeln, steckte den Koran ein und rollte seinen Gebetsteppich ein.
Gaspard und Tobias hatten es eilig, aus dem Zimmer und in den Hof zu kommen. Jana jedoch wartete auf Sadik. Als sie die Treppe hinuntergingen, fragte sie:
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