Falkenhof 03 - Im Banne des Falken
»Kann man so etwas lernen, Sadik?«
»Was?«
»Na, so ein genaues Gefühl für die Zeit zu haben.«
»O ja!«, beteuerte er ernst.
»Und was muss man dafür tun?«
Er blieb stehen und sah sie verschmitzt an. »Genau hinhören und die Schläge der Kirchturmuhr mitzählen«, verriet er ihr sein großes Geheimnis. »In der Wüste funktioniert das natürlich nicht ganz so gut, weil da Glockentürme doch so selten sind wie Kamele in Tinville.«
Jana lachte noch, als sie in den Hof kamen. Ihr liefen die Tränen über die Wangen. Doch als Tobias und Gaspard sie nach dem Grund fragten, sagte sie ihnen nicht die Wahrheit, sondern erzählte ihnen einen Witz, den sie angeblich von Moustique gehört und gerade Sadik erzählt hatte. Tobias und Gaspard fanden ihn recht lustig, verstanden jedoch nicht, wieso Jana darüber so sehr lachen konnte, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Die Kutsche stand schon im Hof bereit. Tobias und Gaspard holten nun die Grauschimmel und spannten sie ein. Erneut kam ein Grollen aus der Ferne.
»Scheint ein Gewitter aufzuziehen«, sagte Jana sorgenvoll. »Für eine Abkühlung käme es ja gerade richtig. Aber ob dann auch die Alouette ausläuft?«
»Ein Gewitter bringt meist auch Wind«, meinte Tobias. »Und solange kein Sturm aufkommt, ist das in Ordnung. Wir wollen ja nicht über den Atlantik, sondern nur nach England hinüber, und das ist doch ein Katzensprung von gerade mal achtzig, neunzig Seemeilen.«
»Ertrinken kann man auch im Dorftümpel«, pflichtete Jana ihm bei.
Um kurz vor halb zehn wies Sadik Gaspard an, in die Kutsche zu steigen und dort zu bleiben, es sei denn, er würde ihn rufen. Louis hatten sie, wie es mit Tambour abgesprochen war, weggeschickt und die Laterne über dem Torbogen gelöscht. Jetzt brannte nur noch die neben dem Hintereingang, jedoch mit heruntergedrehter Flamme.
»Bitte lass sie kommen«, murmelte Tobias, als er mit Sadik auf die Männer von der Alouette wartete.
»Moustique hält bestimmt Wort!«, glaubte Jana, war aber innerlich so aufgeregt wie er. Auf ihre Menschenkenntnis konnte sie sich normalerweise verlassen, aber vor einem Irrtum war sie natürlich auch nicht gefeit.
Um zwanzig vor zehn, als Tobias schon fast mutlos war, hörten sie jenseits der Mauer Schritte von zwei Männern.
»Sie sind es!«, flüsterte Tobias mit vor Aufregung heiserer Stimme. »Sie müssen es sein!«
»Wenn Allah will, dass wir noch rechtzeitig über den Kanal kommen, dann wird er uns seine Helfer auch zur rechten Zeit schicken«, antwortete Sadik leise.
Im nächsten Moment traten zwei Gestalten durch das Tor in den Hof. Es waren die Männer von der Alouette, denn Sadik erkannte Moustique sofort wieder. Der Mann an seiner Seite, bei dem es sich um Kapitän Jean-Baptiste Leon handeln musste, war das genaue Gegenteil von ihm: nämlich breit und kantig wie ein Kleiderschrank, jedoch einen Kopf kleiner. Er schien nur aus Brustkorb, Schultern und einem Schädel zu bestehen, der scheinbar ohne Hals wie ein Findling auf seinem Oberkörper saß. Trotz der schwülen Hitze trug er einen langen, dunklen Seemannsrock, der mit Messingknöpfen versehen war und vor der Brust weit aufklaffte. Auch mit aller Gewalt hätte er ihn nicht zu schließen vermocht. Eine dunkelrote Baskenmütze saß schief und mit einer gewagten Neigung zum rechten Ohr hin auf seinem Kopf. Sein Haar war schwarz, straff nach hinten gekämmt, dem Geruch und Schimmer nach mit Pomade gefügig gemacht und im Nacken zu einem Zopf geflochten.
Sadik beugte sich zu Jana hinüber. »Du hast das alles möglich gemacht, aber Männer sind komisch, wenn es darum geht, mit einer Frau einen Handel zu schließen, besonders Kapitäne. Die haben nie gern Frauen auf ihrem Schiff. Deshalb lass mich das machen. Du hältst dich besser zurück«, sagte Sadik leise zu ihr, während sie sich aus dem tiefen Schatten der Stallungen lösten und den beiden Männern über den Hof entgegengingen.
»Ich weiß«, raunte Jana zurück. »›Lieber tausend Feinde als ein schlaues Weib‹, nicht wahr? Oder wie heißt die andere arabische Weisheit: ›Die Weiber sind die Fallstricke des Satans!‹ Komisch, dass Männer offenbar so schnell zu Fall kommen können. Spricht nicht gerade für ihr Selbstvertrauen, oder? Nur schade, dass mir niemand die Sprüche verrät, die sich die arabischen Frauen über die Männer gebildet haben. Ich könnte glatt den einen oder anderen dazusteuern, etwa den hier: ›Der Mann hat die Arroganz eines
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