Falkenschwur: Die Fortsetzung des Bestsellers »Pestsiegel« (German Edition)
zu Jane, die ihn auf den Arm nahm. »Nein. Nein, Luke. Es ist meine Schuld, Luke, nicht deine. Hör mir zu.« Doch er hatte mir den Rücken gekehrt und das Gesicht an Janes Korsett gepresst. »Was hast du ihm erzählt?«, fuhr ich Anne an.
»Ihm erzählt? Wie kannst du das denken! Meinst du, ich hätte ihn dazu gebracht, das zu sagen? Glaubst du das? Jetzt weißt du, was wir gemacht haben, warum wir auf dem Land waren, warum …« Vorsichtig nahm sie Jane den Jungen ab und wiegte ihn, bis er den Daumen aus dem Mund nahm. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, während er mich von der Seite ansah. Sie tadelte ihn, »kein Geflüster«, doch sie tuschelten miteinander, und sie hielt ihm vor, er solle sich »wie ein Soldat benehmen«, woraufhin er fragte: »Warum kommt er nicht her und wohnt hier?«
Schließlich, als er sich beruhigt hatte, wurde sie energischer und sagte, er würde diese Fragen seinem Vater stellen müssen. Sie setzte ihn auf dem Teppich vor mir ab, und er starrte zu mir hoch und verhörte mich wie ein kleiner Advokat.
»Hat der Mann, der mein Gesicht verbrannt hat, in Großvater Blacks Haus gewohnt, Sir?«
»Früher einmal, ja.«
»Hat er Euch im Keller eingesperrt?«
Ich warf Anne einen verwirrten Blick zu. Sie hob gepeinigt die Hände. »Das war eine Geschichte, Luke …«
»Es ist nicht wahr?«
»Nun, ja, aber …« Ich ging vor ihm in die Hocke. »Luke, er ist tot. Ich habe ihn getötet.«
»Das habt Ihr vorher auch gesagt«, schrie er in wachsender Panik. »Als er meine Schwester getötet hat …«
»Nein, nein. Ich sagte, ich würde ihn töten – und er hat Liz nicht getötet, jedenfalls nicht direkt …«
Je mehr ich versuchte, zu ihm durchzudringen, desto schlimmer wurde es. Er schien zu glauben, dass selbst jetzt, wo George tot war, sein Geist im Keller des Half Moon Court auf ihn wartete. Es war, als hätte ich in irgendeiner Weise die Schrecken meiner Kindheit auf ihn übertragen.
Je mehr ich mich mühte, ihn zu beruhigen, desto mehr schienen diese Schrecken von ihm Besitz zu ergreifen, bis ihm der Schweiß ausbrach und seine vernarbte Wange sich dunkelviolett färbte.
Voll bitterer Ironie fiel mir auf, dass diese Angst unsere einzige Gemeinsamkeit war. In dem Glauben, dass ich zumindest daraus Nutzen ziehen könnte, streckte ich die Arme nach ihm aus. »Komm, Luke. Wir bekämpfen ihn zusammen.«
»Ihr habt gesagt, er sei tot!«
»Ich meine …«
Ich versuchte, ihn festzuhalten. Er schlug schreiend nach mir. Ich fing seine dreschenden Fäuste ein, hob ihn hoch und drückte ihn ganz fest an mich, aber er strampelte und trat mit wachsender Verzweiflung nach mir. Anne streckte die Arme aus und nahm ihn mir ab. Er entglitt ihr, immer noch schreiend, und Jane versuchte, ihn zu beruhigen. Ich stand machtlos daneben, bis ich Annes stumme Bitte sah, zu gehen.
Draußen vor der Tür blieb ich stehen. Ich konnte nicht aufbrechen, ehe die Erschöpfung Lukes Gebrüll gnädigerweise erst in Weinen, dann in Schluchzen und schließlich in Stille verwandelt hatte. Dann vernahm ich die ersten verständlichen Worte.
»Ist er fort?«, fragte er.
Ob er mich meinte oder George oder ob ich für ihn zu George geworden war, wusste ich nicht. Der Lakai, der die ganze Zeit dort gestanden haben musste, schien aus der Wand herauszutreten.
»Die Countess wünscht Euch zu sehen, Sir.«
Ich hörte ihn kaum. Ich wollte nur noch raus aus diesem Haus, doch als ich die Treppe hinunterwankte, trat Lucy auf die Galerie. Ihr Gesicht trug zu meiner größten Überraschung Spuren ihres Alters. Sie war ungeschminkt, und ihre Haut glich gesprungenem Porzellan.
»Tom … Ihr müsst zu ihr zurückkehren.«
»Ich habe sie nicht verlassen! Ich kam, um sie abzuholen. Ihr habt gehört …« Sie wartete, aber ich konnte nicht weitersprechen.
»Ihr müsst zu ihr zurückkehren. Um ihretwillen und um Lukes willen.«
»Luke? Er hat sich erst beruhigt, als ich fort war. Er fürchtet sich vor mir!«
»Er fürchtet sich vor dem Ort, an den Ihr ihn mitnehmen wollt. Es wird vorübergehen. Er muss Euch kennenlernen. Ist Euch klar, wie selten er Euch gesehen hat? Ich meine nicht nur jetzt, sondern sein ganzes Leben lang. Und Ihr braucht die beiden. Seht Euch doch an.«
Sie zog mich zu Cromwells Bild. Es war so dunkel, dass das Glas wie ein Spiegel wirkte. Ich war entsetzt, als ich mich sah. Ich war daran gewöhnt, dass mir ein jugendliches, lausbubenhaftes Gesicht entgegenblickte. Meine Wangen hatten begonnen zu
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