Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
Vom Netzwerk:
Lily – höchstens zehn Jahre oder so. Irgendwie tat sich dadurch eine neue Kluft zwischen uns auf, vor allem als ein Mann sich und seine Leidensgenossen als die vergessenen Überlebenden beschrieb. Verbittert berichtete er, daß man ihnen nicht erlaubt hatte, von ihren Erfahrungen zu berichten. Ich verspürte einen stechenden Schmerz, weil ich so wenig von Lilys Vergangenheit wußte und mich des wenigen, das mir bekannt war, fast – nun ja: geschämt hatte.
    Uns hatte mehr als nur das Alter voneinander getrennt, und auch mehr als der normale Abstand zwischen Eltern und Kind. Am einschneidendsten hatten wir uns hinsichtlich unserer Bildung unterschieden. Meine »Horizonte« hatte meinem Denken Scheuklappen verpaßt.
    Ich fing mit dem Nähzimmer an. Sinead Flynn, eine Freundin Lilys, hatte angeboten, mir zu helfen, und die rief ich jetzt an. Bei Sineads Mutter Rose hatte Lily ihren Beruf erlernt. Sie war ungefähr um die Zeit gestorben, als ich in die höhere Schule gekommen war, und obwohl ich mich nicht an sie erinnern konnte, hatte Lily so oft von ihr gesprochen, daß ich das Gefühl hatte, sie ganz gut zu kennen. Wenn ich gelegentlich fragte, warum sie beispielsweise die Stoffe schräg zum Fadenlauf zuschnitt oder komplizierte Doppelsäume nähte, antwortete sie:
    »So hat Rose Vavasour es mir beigebracht.«
    In Lilys Augen war Rose die Göttin des französischen Saums und die begabteste Zuschneiderin in ganz Dublin gewesen.
    »In Wirklichkeit hatte sie etwas von einer Tyrannin an sich«, lachte Sinead, als wir die Nähmaschinen und Stoffballen in ihren Lieferwagen verfrachteten. »Das Geschäft in der Wexford Street hat sie aus dem Nichts aufgebaut. Im Grunde genommen hatte keine von uns je eine Chance, etwas anderes zu machen.«
    »Macht es Ihnen denn keinen Spaß?« fragte ich.
    »Mir schon, aber meiner Tochter Isobel wäre ein bißchen Selbständigkeit und Unabhängigkeit lieber gewesen. Ganz zu schweigen von unserem armen alten Dad.«
    »Was hat er denn gemacht?«
    »Zustellungen«, antwortete sie und zog die Mundwinkel herunter.
    Ihre beiden Eltern waren tot. Jetzt führte Sinead zusammen mit ihrer zweiten Tochter das Geschäft.
    »Isobel hat ein Morrison-Visum bekommen und ist nach Boston geflohen«, erklärte sie lachend.
    Erst nachdem sie gegangen war, bedauerte ich, sie nicht gefragt zu haben, woher Rose und Lily sich gekannt hatten. Ich hätte sie anrufen können, aber ich hatte das Gefühl, dazu kannte ich sie nicht gut genug. Vielleicht war der eigentliche Grund, daß ich mich schämte, eine Bekannte merken zu lassen, wie wenig ich von der Vergangenheit meiner Mutter wußte.
    Jetzt war nur noch eine Robe – als etwas anderes konnte ich das nicht bezeichnen – übrig, die immer noch darauf wartete, von irgend jemand angefordert zu werden. Sie war lang, kunstvoll drapiert und aus herrlicher goldfarbener und dunkelgrüner Seide gefertigt. Es war ungewöhnlich, daß kein Zettel daran geheftet war, und auch im Auftragsbuch konnte ich keinen entsprechenden Eintrag finden. Ich packte sie ein und legte sie beiseite. Irgendwer würde, dessen war ich sicher, auftauchen und danach fragen. Schon allein der Stoff war viel zu teuer, um einfach verschenkt zu werden. Und falls sie nicht abgeholt würde, hätte ich sie ganz gerne selber gehabt. Ich probierte sie an, und abgesehen von der Länge paßte sie wunderbar. Im Grunde genommen hoffte ich, niemand würde sie für sich beanspruchen, und tatsächlich wurde nicht danach gefragt. Was allerdings nicht allzu überraschend war, da ich nur selten ans Telefon ging, wenn es klingelte. Dann schaute eines Vormittags, als ich vom Schwimmen zurückkam, Mrs. Dwyer vorbei.
    »Eine Frau hat geläutet und nach etwas gefragt, das Ihre Mam für sie gemacht hat. Sie hat gesagt, Ihr Telefon funktioniert nicht, und hat ihre Telefonnummer dagelassen und gebeten, Sie sollten sie anrufen.« Sie drückte mir einen Zettel in die Hand.
    »Hat sie ihren Namen hinterlassen?«
    »Ich glaube nicht, lassen Sie mich mal überlegen … Können Sie sich das vorstellen, Nell, ich kann mich nicht erinnern. Mein Gedächtnis läßt mich allmählich im Stich.« Sie sog an ihrer Lippe und gab etliche komplizierte, schmatzende Geräusche von sich. Ohne Erfolg. »Tut mir leid, meine Liebe. Sie muß ihren Namen gesagt haben, oder? Warten Sie mal, sie hat gesagt, das Kleid ist grün und noch was.« Triumphierend strahlte sie mich an. Verdammt.
    »Das geht in Ordnung«, versicherte ich ihr. »Ich weiß,

Weitere Kostenlose Bücher