Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 2 - Die Goetter von Amyrantha
unbeeindruckt zu wirken, aber insgeheim schlug ihr Herz wie wild. Es war wunderbar, an Deck zu stehen und zuzusehen, wie die Stadt immer näher kam, ohne sich dabei schuldig oder nervös zu fühlen. Aus ihrer Wahlheimat Glaeba war sie offiziell nicht mehr herausgekommen, seit Declan sie mit fünfzehn aus Senestra mitgebracht hatte. Normalerweise war sie auf geheimer Mission unterwegs und musste sich in dunklen, feuchten Frachträumen verkriechen und versteckt bleiben.
Tijis Erinnerungen an die Zeit, bevor Declan sie aufgestöbert hatte, waren unzusammenhängend, als habe ihr Leben nur aus einer Reihe von isolierten Vorfällen bestanden. Sie erinnerte sich bruchstückhaft an Gesichter, die sie nicht einordnen konnte, an dunkle, aber eigentlich banale Vorfälle, und dann waren da noch die bitteren, quälenden Albträume von Schlägen und Schmerz, der lange nicht verging. Sie hatte viel Energie aufgewandt, um all das zu vergessen. Damit blieb ihr nichts aus ihrer Vergangenheit, woran sie sich halten konnte. Es gab einfach nichts, worauf sie zurückblicken und es Kindheit nennen konnte. Es war fast so, als hätte sie gar keine Vergangenheit. Als wäre sie schon als Erwachsene auf die Welt gekommen, und zwar an dem Tag, als Declan mit einem Beutel Gold ihre Freiheit erkaufte.
Tiji fragte sich, ob sie die Vergangenheit einfach aus ihrer Erinnerung getilgt hatte, oder ob man ihr, wie Declan vermutete, Drogen verabreicht hatte, um sie gefügig zu machen. Es war wohl eine Mischung aus beidem. Wie auch immer, ein fremdes Land mit Diplomatenpapieren zu bereisen - die einen Schutz darstellten, wie ihn nur wenige Menschen genossen, von Crasii ganz zu schweigen - erfüllte das junge Chamäleon trotz der ernsten Neuigkeiten, die sie zu überbringen hatte, mit wilder Vorfreude und einem unbändigen, nie gekannten Vergnügen.
In Ramahn gab es für Tiji keinen Grund, sich verstohlen zu bewegen, wie sie es sonst immer tun musste, wenn sie für Declan Hawkes unterwegs war. Als das Schiff anlegte, bat sie den Kapitän, eine Sänfte für sie bereitstellen zu lassen, was er anstandslos tat, ohne sie auch nur zweifelnd anzusehen. Ihr weniges Gepäck wurde als Erstes entladen und von einem Besatzungsmitglied für sie von Bord getragen. Die Miene des Zollbeamten am Hafen wechselte von Verachtung zu Unterwürfigkeit, sobald sie ihre Papiere vorwies, und im Handumdrehen war sie auf dem Weg zur glaebischen Gesandtschaft, während die Passagiere der zweiten Klasse immer noch von Bord gingen.
Obwohl in der Gesandtschaft niemand mit ihrer Ankunft rechnete, war Lady Desean zu Tijis gewaltiger Erleichterung zu Hause. Somit blieb ihr die Mühe erspart, dem Fürsten von Lebec den Grund für ihr Kommen zu erklären. Laut Declan hatte der Fürst nicht mal eine Ahnung, dass die Gezeitenfürsten real waren, ganz zu schweigen von der Gefahr, die sie für die sterblichen Bewohner Amyranthas darstellten.
Wenigstens kannte Arkady Desean die Wahrheit über die Gezeitenfürsten. Sie würde verstehen, warum es so wichtig war, einen Kurier zu schicken, wenn es Neuigkeiten über die Unsterblichen gab. Und in der Tat, nur wenige Augenblicke, nachdem Tiji dem Kämmerer an der Tür ihren Status als königlicher Kurier erklärt und ihm ihre Papiere gezeigt hatte, führte man sie direkt ins Serail vor die Fürstin von Lebec.
Arkady Desean war eine Schönheit. Tiji hatte das von anderen gehört und wusste es auf der Verstandesebene, doch die Reize der Fürstin gingen an der Chamäliden völlig vorbei. Immerhin fand Declan sie schön, das wusste Tiji genau, also musste es wohl stimmen. Sie war groß für eine Frau, viel größer als Tiji, und hatte offenbar gerade in der Nachmittagshitze ein Nickerchen gemacht. Ihr langes dunkles Haar trug sie offen, und sie war in ein weit fallendes Untergewand aus so hauchfeiner roter Seide gekleidet, dass schon die leichte Brise bei ihrem Eintreten den Stoff in Bewegung versetzte. Tiji folgte der Dienerin, die sie ins Serail eingelassen hatte, und sah sich neugierig um. Der Hauptraum erinnerte an die Atrien, die es manchmal in den vornehmeren Häusern von Glaeba gab, aber er war überdacht. Und auch der Springbrunnen, der in der Raummitte melodisch in ein gekacheltes Becken plätscherte, konnte gegen die gnadenlose Hitze nichts ausrichten.
Arkady erhob sich und machte kein Hehl aus ihrer Überraschung, als Tiji auf die Ruheliegen auf der anderen Seite des Springbrunnens zukam, wo die Dame des Hauses sich aufhielt.
»Du bist
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