Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
Antwort musste Warlock sich wohl zufriedengeben.
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Der Sonnenaufgang vergoldete den Oberen Oran und verwandelte die Millionen von Eisbröckchen, die die Oberfläche des Sees sprenkelten, in glänzende Nuggets, die sanft in einem See geschmolzenen Goldes dümpelten. Einerseits krank von dem Gemetzel, aber zugleich auf merkwürdige Art unberührt davon sah Declan die Sonne in der Ferne über Glaeba aufgehen und fragte sich, ob sein Gleichmut gegenüber dem großen Sterben, dessen Zeuge er gestern geworden war, das erste Anzeichen für den Verlust seiner Menschlichkeit war.
Als sich dieser Gedanke als zu verstörend erwies, konzentrierte er sich auf praktischere Dinge – die Frage, was er als Nächstes tun sollte.
Das Chaos, das auf Jaxyns gescheiterten Versuch, Caelum zu erobern gefolgt war, rumorte immer noch hinter ihm entlang der Hafenbefestigungen. Das war jetzt die Aufgabe von niederen Sterblichen, denen es oblag, den Abfall zu beseitigen. Viel Arbeit war bereits getan, und mancherorts hatten die Arbeiter der Müdigkeit nachgegeben und ihre Bettstatt aufgesucht. Zu seiner Rechten zog noch eine erschöpfte Arbeitsbrigade die letzten Toten, die über Nacht ans Ufer gespült worden waren, auf einen Leichenhaufen. Von da aus verlud sie ein Trupp Caniden mit hängenden Schultern und ausdruckslosen Mienen auf einen flachen Wagen, um sie zur Verbrennung zu fahren.
Declan war klar, warum sie immer noch fieberhaft daran arbeiteten, den See zu reinigen. Es hatte nicht nur ästhetische Gründe, dass sie sich solchen Anstrengungen unterwarfen, um das Wasser von Leichen zu säubern. Die Großen Seen waren die Lebensader sowohl Glaebas als auch Caelums. Nichts als Seuchen und noch mehr Tod würden folgen, wenn so viele verwesende Körper das größte Trinkwasserreservoir des Kontinents vergifteten.
Er warf einen Blick über die Schulter in Richtung der Stadt. Sein Atem gefror in der eisigen Morgenluft. Die Temperaturen schienen ein wenig gestiegen zu sein, jetzt, wo das Eis weg war, aber es war immer noch bitterkalt. Schließlich befanden sie sich nach wie vor in den Klauen des kältesten Winters, an den sich irgendjemand in Caelum oder Glaeba erinnern konnte.
Stellan Desean war jetzt wohl da oben im Palast, vermutete Declan, und kämpfte um die Krone, die ihm rechtmäßig zustand. Declan fragte sich, wie es in den Verhandlungen stehen mochte. Wenn Stellan seine Karten richtig ausspielte, würden Syrolee und ihre Sippschaft ihm die Krone vielleicht überlassen. Für eine Weile. Immerhin waren sie unsterblich. Es war eher unwahrscheinlich, dass Stellan Erben zeugen würde, die dann in ein paar Jahren die Thronfolge beanspruchten, selbst wenn sie ihn auf dem Thron sitzen ließen, bis er in hohem Alter starb.
Declan musste lächeln. Vielleicht schlugen sie auch vor, dass Elyssa Stellan heiraten und seine Königin werden sollte. Das würde allen passen, dachte er. Außer Stellan, der schon verheiratet war. Und Arkady, die wahrscheinlich sterben müsste, um diesem Arrangement zur nötigen Rechtskräftigkeit zu verhelfen. Vorausgesetzt, sie konnten sie finden.
Declans Belustigung schwand, als er begriff, dass das gar kein so abwegiger Gedanke war. Die Unsterblichen waren schon seit sehr langer Zeit zugegen. Wie auch immer ihre individuellen Charakterfehler ausfielen, sie hatten alle verstanden, wie viel leichter es war, ein Land mit der bereits vorhandenen Infrastruktur der Macht zu lenken. Königreiche bestanden aus weit mehr als Königen, Königinnen und Palästen. Sie setzten sich aus Leuten zusammen – aus Bauern, Händlern, Hufschmieden, Soldaten, Schneidern, Polsterern, Webern, Bäckern, Tischlern, Bogenmachern, Ladenbesitzern und Bettlern, ja, sogar den Huren, die in jeder Stadt, die Declan je besucht hatte, ihre Dienste an den Straßenecken feilboten. Ein Reich war ein komplexer Teppich ineinander gewebter Fäden, voller Beziehungen und Abhängigkeiten wie der zwischen Grundbesitzern und Pächtern, Krämern und ihren Kunden, Handwerksmeistern und ihren Lehrlingen. Ein Reich war sowohl eine ökonomische als auch eine politische Wesenheit.
Krieg unterbrach den Fluss des Handels und erschwerte die Regierbarkeit aller Angelegenheiten. Staatsstreiche von Außenseitern, die die Mehrheit als der Macht unwürdig betrachtete – oder schlimmer, die sich eigenmächtig und gewalttätig am Wohlstand eines Volkes bereicherten –, trugen meist dazu bei, allen möglichen Widerstandsbewegungen auf die Füße zu helfen. Die
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