Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
Mantelständer eines Bordells in den Elendsvierteln von Lebec entwendet hatte, wo die Kunden längst zu betrunken waren, um noch etwas zu merken. Fürs Erste musste er allerdings kaum befürchten, erkannt zu werden. Der dichte Schnee, den der Wind wirbelnd durch die Straßen trieb, hielt die meisten Leute im Haus. Nur wer einen sehr guten Grund oder keine andere Wahl hatte, war an einem Morgen wie diesem draußen unterwegs. Declan nahm die Kälte kaum wahr, als er mit hochgezogenen Schultern durch den Schnee stapfte, den Kopf voll düsterer Gedanken über Verderben und Weltuntergang.
Glaubte man Kentravyon, so war die Vernichtung Amyranthas unausweichlich, wenn Lukys den Kristall des Chaos aktivierte, um Coryna wieder zu menschlicher Gestalt zu verhelfen. Wie er Tilly gesagt hatte, war Cayals Tod (an dem Declan ohnehin noch leichte Zweifel hatte) dabei nur eine Begleiterscheinung des eigentlichen Akts. Die Frage, ob nun die Welt untergehen würde oder nicht, wenn der Kristall aktiviert wurde, war im Grunde rein spekulativ. Aber wenn er sich entscheiden musste, war Declan eher geneigt, einem Wahnsinnigen zu glauben, der dabei kein eigenes Süppchen zu kochen hatte, als dem lebensmüden manisch-depressiven Unsterblichen, der bedenkenlos jede Lüge in Kauf nehmen würde (einschließlich des Weltuntergangs), wenn sie ihm nur den Tod näher brachte.
Würde Lukys – Declan konnte sich immer noch nicht dazu durchringen, den Unsterblichen als Vater zu betrachten – wirklich ganz Amyrantha für eine einzige Person aufs Spiel setzen? Was war mit dem ehrenhaften Grundsatz geschehen, dass das Wohl der Vielen mehr wog als das Wohl des Einzelnen?
Ist Lukys um seiner großen Liebe willen bereit, eine Welt in Trümmer zulegen?
Wenn er es war, hatte er allerbeste Chancen auf Erfolg. Lukys hatte Maralyce, Cayal, Kentravyon und wahrscheinlich auch Elyssa zur Verfügung – und Pellys, falls der hinreichend beieinander war. Was Lukys anscheinend bezweifelte. Und Arryl und Taryx waren auch noch da. Fünf Gezeitenfürsten und zwei niedere Unsterbliche, um die Kraft der Gezeiten auf ihrem Höhepunkt zu vereinen.
Sie aufzuhalten käme dem Versuch gleich, die Gezeiten selbst anzuhalten.
Es würde mehr Macht brauchen, als Declan je zu erlangen hoffen konnte.
Es sei denn …
Declan stutzte, als ihm ein schauriger Gedanke kam. Lukys hatte ein halbes Dutzend Gezeitenfürsten versammelt, um die Energie zu bündeln, die er benötigte, um Coryna wiederherzustellen.
Wie viele Gezeitenfürsten brauchte man wohl, um ihn aufzuhalten?
Die Idee war gleichermaßen reizvoll und abschreckend, doch im nächsten Augenblick begriff Declan mit schwindelerregender Klarheit, dass er vielleicht auf die einzige Möglichkeit gestoßen war, das Ende der Welt noch abzuwenden.
Nicht alle Unsterblichen waren scharf darauf, die Welt zu zerstören. Es gab andere Gezeitenfürsten, andere mächtige Unsterbliche, die gar nichts dagegen hatten, hier auf Amyrantha zu bleiben. Gezeitenfürsten, die Lukys nicht mochte oder denen er nicht genug traute, um sie in seine Pläne einzuweihen. Brynden könnte so ein Kandidat sein. Kinta jedenfalls hatte entschieden beunruhigt gewirkt, als Kentravyon ihr von seinen Plänen erzählte, und bestimmt hatte sie seine Geschichte längst ihrem Gefährten zugetragen. Dann gab es da noch Tryan. Er war mit dem Versuch beschäftigt, sich den ganzen Kontinent unter den Nagel zu reißen. Aber würde er sich auch gegen seine eigene Schwester wenden, wenn sie sich mit Lukys zusammentat – oder vielmehr mit Cayal?
Damit blieb an wirklich mächtigen Gezeitenfürsten nur noch Jaxyn übrig. Declan selbst eingeschlossen ergab das maximal vier Gezeitenfürsten. Wahrscheinlich nicht genug. Aber was, wenn er es schaffte, die anderen auf seine Seite zu ziehen? Was war mit Kintu, Diulu, Lyna, Ambria und Medwen – ja sogar Syrolee und Engarhod, Käme und Krydence? Konnte die vereinigte Kraft so vieler niederer Unsterblicher die Macht von Lukys' erlesener Runde und ihrem gezeitenbimdeltulen Kristall brechen? Wenn Declan nur genug Opposition mobilisierte, war es dann möglich, Lukys an der Zerstörung der Welt zu hindern?
Und wozu das Ganze? Um Amyrantha vor der Vernichtung zu bewahren, damit der endlose Kreislauf von Zerstörung und Wiederaufbau ewig so weiterging?
Declan marschierte zwei Straßen weit, während er sich mit dieser Frage abquälte, bevor ihm eine einfache Tatsache klar wurde. Solange Amyrantha existierte, gab es Hoffnung – wie
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