Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
dünn auch immer –, eine Möglichkeit zur Befreiung vom Joch der Gezeitenfürsten aufzuspüren.
Einmal zerstört, gab es jedoch keine Hoffnung mehr.
Gezeiten, dachte Declan, und schüttelte den Kopf, als er begriff, was er tun musste. Ich kann nicht glauben, dass ich überhaupt über so etwas nachdenke …
Er blieb an der nächsten Ecke stehen, um sich zu orientieren. Die Straßen hier waren ihm schmerzhaft vertraut. Wenn er sich an dieser Kreuzung links hielt, kam er gleich an das biedere kleine Haus mit der Praxis im Erdgeschoss, wo zwischen einer schäbigen Apotheke und der köstlich duftenden Bäckerei Arkady mit ihrem Vater gelebt hatte, als sie noch Kinder waren. Zu seiner Rechten lag die Straße, die zu seines Großvaters Dachkammer führte, und wenn er weiter Richtung Süden ging, würde er alsbald zu dem Bordell kommen, in dem er mit seiner Mutter gelebt hatte, bis er zehn war.
Declan wurde bewusst, dass die Elendsviertel von Lebec seine wahre Heimat waren, in einem Sinn, wie es ein anderer Ort nie sein konnte, ganz gleich, wie lange er noch lebte. Jetzt, da ein sauberes Laken aus Schnee all den Schmutz verdeckt und die Bettler von der Straße vertrieben hatte, war das alte Viertel im schwachen Licht des Morgengrauens eine Bilderbuchschönheit, jeder Makel überdeckt von Schnee und langen Schatten.
Hierfür musste er kämpfen, das wurde ihm jetzt klar. Auf jeden Reichen dieser Welt mit so majestätischen Palästen wie dem, wo Arkady lebte, als sie großes Geld geheiratet hatte, kamen Abertausende von Leuten wie den Bewohnern dieser Armenviertel – Crasii und Menschen –, deren Alltag diese vollgestopften und heruntergekommenen Häuser belebte, hier und in anderen Städten überall auf Amyrantha. Leute mit einem Leben, das genauso viel wert war wie das eines Unsterblichen. Vielleicht wertvoller. Sterbliche hatten begrenzte Zeit. Sie hatten Gründe, nichts von der Zeit zu vergeuden, die das Schicksal ihnen zugestand.
Nur Unsterbliche konnten es sich leisten, das Leben an frivolen Zeitvertreib zu verschwenden.
Nur Unsterbliche konnten befinden, dass das Wohl des Einen über dem Wohl der Vielen stand.
Declan warf die Kapuze seines Umhangs zurück und sah sich um. Er kümmerte sich nicht länger darum, ob er erkannt wurde. Hier in diesen Straßen zu stehen, zu denen er gehörte, brachte ihm noch etwas anderes zu Bewusstsein. Solange er sich an diese Gegend erinnerte, solange er für die Leute kämpfte, die hier geboren waren, die in diesen schmutzigen Straßen lebten und starben, hatte er Hoffnung, sich seine Menschlichkeit zu bewahren.
Ganz gleich, wie das Schicksal von Amyrantha letztlich ausging: Wenn dieser Ort zerstört war, würde er einen Teil von sich verlieren, dessen Verlust er sich nicht leisten konnte. Auch wenn er kämpfte, um die ganze Welt zu retten, tat er das, weil diese Gegend – sein Zuhause – ein Teil dieser Welt war. Um den einen zu retten, musste er alle anderen retten.
Und um das zu tun, brauchte Declan Hilfe. Die allerschlimmste Art von Hilfe.
Er brauchte alle Gezeitenfürsten, die Lukys in seiner Weisheit für untauglich erachtet hatte, in seiner schönen neuen Welt zu leben. Die Gezeitenfürsten, die nicht für das Privileg vorgesehen waren, den Spalt zu durchqueren, den er öffnen wollte, um die Kraft zweier Welten für die Neuverkörperung Corynas zu vereinigen.
Um Lukys und Cayal aufzuhalten, brauchte Declan die übelsten und selbstsüchtigsten Gezeitenfürsten, die er kannte. Er brauchte die einzigen drei Unsterblichen, von denen er sicher sein konnte, dass sie gerüstet waren, alles Notwendige zu tun, um Cayal am Versuch zu Sterben und Lukys am Öffnen seines Spalts zu hindern: Brynden, den Fürst der Vergeltung, Tryan, den das Tarot der Überlieferung Tryan der Teufel nannte, und den vielleicht unangenehmsten von allen …
Declan brauchte Jaxyn Aranville, der den unglaublich unpassenden Spitznamen Fürst der Askese trug.
Er konnte die anderen Unsterblichen in den Gezeiten fühlen.
Sie waren nicht sehr nahe, aber Declan war inzwischen besser auf die Gezeiten eingestimmt und wurde immer geschickter darin, zu differenzieren, was jede einzelne Störung zu bedeuten hatte. Als er am Palast von Lebec ankam, wusste er, dass seine Ahnung ihn nicht getrogen hatte. Nachdem die Schlacht verloren war und ein Großteil seiner Crasii-Truppen mit dem Gesicht nach unten im Oberen Oran trieb, hatte Jaxyn sich mit Diala und Lyna in den Palast von Lebec zurückgezogen, um seine
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