Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
sich anzukündigen.
Er hatte beim besten Willen nicht einschätzen können, wie Brynden auf sein Erscheinen reagieren würde, und er war nicht bereit, aufgrund vager Annahmen massenhaft unschuldige Leben aufs Spiel zu setzen. Es war eine Sache, den magischen Alarm an der kaum besiedelten Westküste auszulösen, wo nur Kinta in der Nähe war und nachsehen konnte. In unmittelbarer Nähe eines der größten Bevölkerungszentren von Amyrantha die Barriere zu überqueren stand auf einem ganz anderen Blatt.
Doch das Warten auf die Antwort hatte unter dem Druck der Antizipationen seine Nerven verschlissen. Zwei Wochen waren eine lange Zeit, um sich zu sorgen, ob Jaxyn sein Versprechen halten würde, und darüber nachzugrübeln, ob Stellan Desean fähig war, seine Gefühle so weit unterm Deckel zu halten, dass er mit Jaxyn umgehen konnte. Ganz zu schweigen von der Frage, ob die eben noch in einen blutigen Krieg verstrickten Gezeitenfürsten von Caelum und Glaeba an einen Tisch zu bringen waren. Und ob eine Allianz zwischen ihnen jetzt überhaupt noch möglich war. Es verdross Declan enorm, wie unpassend dieser Konflikt kam. Wer hatte schon Zeit, sich mit Grenzstreitigkeiten zu befassen, wenn die Welt am Rande des Untergangs stand?
Sein Gegrübel war natürlich sinnlose Zeitverschwendung. Und genau zwei Wochen, nachdem er Warlock mit einem versiegelten Brief zu Händen der Kaiserlichen Gemahlin losgeschickt hatte – just an dem Tag, als er sich sagte, dass sein Anliegen abgelehnt und Warlock längst tot war und er es riskieren musste, selbst nach Torlenien zu gehen –, traf aus Ramahn eine Nachricht ein und brachte die Kunde, dass Brynden ihm eine Audienz gewähren würde.
Er riss sich von der Betrachtung der nassen Stadt los, als er in den Gezeiten spürte, dass jemand kam. Es waren zwei, stellte er fest. Die mächtigen Wellen eines Gezeitenfürsten und die seichtere Dünung einer Unsterblichen, die nicht über die gleiche Macht verfugte, aber immerhin fähig war, die Gezeiten zu lenken. Declan atmete tief durch. Sein Herz hämmerte, als der Fürst der Vergeltung und seine Gefährtin sich dem Audienzsaal des Palastes von Ramahn näherten. Es war ein großer Raum, gefliest mit Mosaiken, farbenprächtige Darstellungen der vielen moralischen Lektionen, die der Fürst der Vergeltung seinem Volk in den letzten Jahrhunderten beschert hatte. Allerdings war den Menschen von Torlenien zurzeit nicht bewusst, dass ihr Gott inzwischen wieder auf dem Thron saß. Sie glaubten nach wie vor unverbrüchlich an ihren geliebten Kaiser, der, verwandelt von einer Krankheit und einem Wunder, ein Mann der Weisheit und inneren Einkehr geworden war.
Declan war nicht ganz klar, wie Brynden mit einer so verzwickten Täuschung hatte durchkommen können. Wahrscheinlich nur mit der Hilfe von Crasii, die ja gezwungen waren, zu tun und zu sagen, was immer er befahl. Und alles menschliche Personal, dem Declan auf seinem Weg durch den Palast begegnet war, schien aus Priestern zu bestehen, Mitgliedern von Bryndens Sekte. Declan schlussfolgerte daraus, dass sie alle entscheidenden Posten besetzten und sonst keiner mehr da war, der vielleicht widersprochen hätte.
Seine Haut kribbelte heftig. Keiner der beiden herannahenden Unsterblichen benutzte in diesem Augenblick Gezeitenmagie, aber die Flut stieg so schnell, dass ihre Präsenz allein schon genügte. Selbst Declan fühlte diese enorme Geschwindigkeit. Es lag so ein Drängen darin, als würde etwas bisher noch mühsam in Schach Gehaltenes nicht mehr lange zu unterdrücken sein. Es war aufregend. Es war erschreckend. Es machte Declan Mühe, sich zurückzuhalten und nicht aus den leichtfertigsten Gründen in die Gezeiten einzutauchen und sie aus purer Lust zu gebrauchen.
Da er darauf gefasst war, es mit einem weltberühmten Krieger zu tun zu kriegen, war Declan ein wenig enttäuscht, als sich die Türen am Ende der kathedralenartigen Audienzhalle öffneten und Brynden in Sandalen, losem weißen Hemd und Leinenhosen erschien, wie sie jedermann auf den Straßen von Ramahn trug. Gut gebaut und durchtrainiert, glatt rasiert, mit kurz geschnittenem blondem Haar und dem federnden Gang eines Kriegers, sah er eher nach einem Söldner aus als nach einem Kaiser.
Kinta ihrerseits war genauso gekleidet wie vor ein paar Wochen an der Westküste Torleniens, nachdem sie ihren Schleier abgelegt hatte: in vollem Harnisch, mit kurzer Ledertunika und einem reich geprägten ledernen Brustpanzer. Er fragte sich, warum
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