Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
Pelzmütze von der Kommode neben der Waschschüssel. Sie fuhr in die Ärmel, drückte sich die Mütze auf den Kopf, schlüpfte ohne ein weiteres Wort durch die Tür hinaus auf die dämmrige Treppe zum Vordeck und ließ den unsterblichen Prinzen und alles, was sie ihm hatte sagen wollen, hinter sich.
In ihren Pelzmantel eingemummelt und die Mütze tief über die Ohren gezogen, machte Arkady sich auf den Weg an Deck, wo sie feststellte, dass der Küstenstreifen am Horizont schon erstaunlich nah war. Eisberge sprenkelten die umliegende See, die der Sonnenaufgang mit einem zauberischen Licht vergoldete. Sie hatte gehört, dass die Sonne hier im Hochsommer nie unterging, und die letzte Nacht war ihr auch ungewöhnlich kurz vorgekommen. Wobei das vielleicht eher den Aktivitäten dieser Nacht geschuldet war, wie sie sich eingestehen musste. Die Besatzung rannte hektisch hin und her, die Seeleute brüllten einander zu und taten, was Seeleute auf Schiffen eben tun, um durch Gewässer voller Eisberge zu manövrieren. Arkady musste öfters stehen bleiben, ausweichen und Entschuldigungen murmeln, als sie sich vorsichtig auf dem rutschigen Deck voran bewegte. Die Hochseeschifffahrt war für sie eine abschreckende und nervenaufreibende Angelegenheit. Obwohl sie in einer Stadt an einem See aufgewachsen war, hatte sie die Bekanntschaft mit dem Segeln erst später im Leben gemacht, nach ihrer Heirat mit Stellan. Doch das waren alles nur Vergnügungsfahrten auf ruhigem Wasser gewesen, auf einer sehr großen und gut ausgerüsteten Schaluppe mit Scharen von Dienern und sogar einem kleinen Orchester zur Unterhaltung der Gäste. Ihre einzige Erfahrung mit der Hochsee dagegen war die kurze Überfahrt über das Sanornameer von Glaeba nachTorlenien gewesen, als der König sie ins Exil geschickt hatte, und dann die viel längere Fahrt als Sklavin über den Ozean nach Senestra – eine Reise, an die sie aus etlichen Gründen ungern zurückdenken wollte, und die wenigsten davon hatten mit Nautik zu tun.
Weiter vorne entdeckte sie Elyssa, die mit dem Kapitän sprach, oder vielmehr er mit ihr. Er gestikulierte und zeigte und machte absolut kein Hehl daraus, dass er über etwas äußerst beunruhigt war. Nicht weit von ihnen entfernt ließen einige Seeleute ein Langboot ins Wasser hinunter. Die unsterbliche Jungfrau sah auf und erblickte sie. Als der Kapitän verstummt war, winkte sie Arkady mit einer Armbewegung zu sich.
»Wir kommen mit dem Schiff nicht weiter«, sagte sie, und ihr Atem gefror in der eisigen Luft. »Kapitän Hasenfuß hier hat Angst, dass sein kostbarer Schiffsrumpf sich Kratzer an einem Eisberg holt. Wir werden den Rest des Weges mit dem Langboot machen müssen.«
Arkady nickte, ihr war nicht klar, ob sie um ihre Meinung gefragt wurde oder soeben einen Befehl bekommen hatte. »Ich verstehe.«
»Du musst deine Sachen holen«, sagte Elyssa zu ihr. »Und sorg dafür, dass der Kristall gut verstaut ist.«
»Natürlich.«
»Hast du Cayal gesehen?«
»Nicht seit gestern Abend«, log Arkady. Sie fand es interessant, wie sehr es die Unsterblichen irritierte, dass sie einander hier nicht mehr in den Gezeiten spüren konnten.
Die dämpfende Wirkung des Kristalls des Chaos war wirklich faszinierend. Die Wissenschaftlerin in Arkady hätte liebend gern die Gelegenheit gehabt, ihn genauer zu erforschen – wenn die Erforschung eines magischen Artefakts denn Wissenschaft genannt werden konnte. »Ich gehe ihn suchen, wenn Ihr möchtet.«
»Pack du deine Sachen und sorge dafür, dass der Kristall sicher verwahrt ist«, versetzte Elyssa. »Um Cayal zu finden, brauche ich deine Hilfe nicht.«
»Ganz wie Ihr wünscht, Euer Hoheit«, sagte sie mit einem unbeholfenen Knicks, der vom Wellengang des Schiffs noch erschwert wurde. »Werden wir nach dem Anlegen den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen müssen?«
»Ich gehe davon aus, dass man uns dort mit einem Schlitten erwartet.«
»Aber woher wird man denn wissen, dass wir kommen?«, fragte Arkady und sah besorgt hinab auf das eisige Wasser tief unter ihnen. Wenn sie beim Hinunterklettern ins Langboot auch nur eine einzige Leitersprosse ausließ, würde das Wasser dort unten sie in wenigen Augenblicken töten.
»Lukys dürfte eine magische Barriere um den Kontinent errichtet haben«, sagte Elyssa. »Wahrscheinlich sind wir schon vor Tagen hindurchgesegelt. Er weiß, dass wir kommen.«
»Es sei denn, der Kristall des Chaos hat sie neutralisiert«, warf Cayal ein, der so überraschend
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