Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
hörte. Sie stürmte den Hang wieder hinab und auf die Konfusion zu.
Stellan stand auf dem Grat und sah zu, wie der Palast zusammenbrach. Türmchen um Türmchen brach ab und zerschellte unten auf dem Eis. Im Boden klafften jetzt gewaltige Risse, die sich von dem unterirdischen Gewölbe her auszubreiten schienen. Eine dicke, knallrote, wirbelnde Nebelwolke schwebte direkt über dem schwarzen Schlund, der einst eine sagenhafte, von Feuer erleuchtete Halle unter der Erde gewesen war. Für einen flüchtigen Augenblick bedauerte Stellan, dass er sie niemals zu Gesicht bekommen hatte, er kannte sie nur aus den Beschreibungen von Declan Hawkes.
Was er erzählt hatte, klang nach einem wahren Wunderwerk mit fabelhaften gewölbten und gerippten Wänden und einem umlaufenden Ring aus methangespeistem Feuer, das ein höllisches Licht abgab …
Stellan runzelte die Stirn und starrte auf die Risse im Eis. Ihm kam ein furchtbarer Gedanke. Die Sprünge breiteten sich immer weiter aus. Der Palast zerfiel vor seinen Augen. Von den acht Türmen waren schon sechs zusammengebrochen, und er sah keinen einzigen der Gezeitenfürsten mehr, die an ihnen gehangen hatten, um hoch über dem Boden und damit auch oberhalb der dämpfenden Wirkung des Kristalls des Chaos die Gezeiten lenken zu können.
Declan zufolge war die unterirdische Eiskammer von immerwährendem Feuer erhellt, das mit unter dem Eis eingeschlossenem Gas gespeist wurde. Doch wenn das Eis jetzt so rasend schnell aufbrach, würde das Gas dann nicht frei werden? Würde es explodieren? Würde es in die Luft entweichen und alle Sterblichen im Umkreis ersticken? Und wenn ja, wie weit reichte seine Wirkung?
Stellan war wie gelähmt vor Angst und Unentschlossenheit. Er hatte in seinem Leben viele Katastrophen tapfer durchgestanden und mit seinem diplomatischen Geschick wahrscheinlich schon ganze Völker vor den Verheerungen des Krieges retten können. Aber dies hier war eine Nummer zu groß für ihn. Es war einfach zu viel für einen jämmerlichen Sterblichen. Stellan starrte hilflos auf ein Weltenende von unvorstellbarem Ausmaß und konnte nichts dagegen unternehmen.
Die Risse im Boden wurden breiter. Aus dem eingestürzten Gewölbe schössen Flammen hervor. Der Schnee dampfte und brodelte, und der Himmel verfinsterte sich noch mehr. Die Blitze zuckten mit einer unnatürlichen Regelmäßigkeit herab, fast als ob etwas in der Kammer sie herbeiriefe, und der Donner krachte so laut, dass er kaum noch seine eigenen Gedanken hören konnte.
Stellan konnte dort unten keine Überlebenden mehr ausmachen, aber da etliche der betroffenen Unsterbliche waren, hatte das wohl nicht viel zu bedeuten.
Was Warlocks Schicksal anging, so machte er sich keine Illusionen. Kein Sterblicher konnte den feurigen Hurrikan überleben, der über den Trümmern der unterirdischen Höhle tobte. Ein Stück weiter war der Palast der unmöglichen Träume so gut wie verschwunden. Auch den hatte Stellan nie mit eigenen Augen von innen gesehen.
Wieder erschütterte eine gewaltige Explosion das Eis, und ein neuer klaffender Riss spaltete jäh den Boden, wobei eine Dampfwolke emporstieg. Es begann zu regnen, doch der Regen kam von der Seite. Stellan konnte nicht sagen, ob es sich um echten Regen handelte oder ob der feurige Wirbel im Zentrum des Orkans Schmelzwasser versprühte.
Und dann, ohne jede Vorwarnung, war der Hurrikan auf einmal verschwunden.
Eine plötzliche und unheimliche Stille senkte sich über die Landschaft. Mit dem Verschwinden des brüllenden roten Wirbels hatte der Regen aufgehört, und sogar die zuckenden Blitze hielten im Augenblick inne.
Ohne auf Wind oder Kälte zu achten, schob Stellan die Kapuze seines pelzgesäumten Mantels zurück und fragte sich, ob es vorüber war.
Ist es vollbracht? Hatten Declan und Warlock es geschafft? War es ihnen gelungen, den Spalt zu schließen? Hatten sie die Gezeitenfürsten noch davon abhalten können, so viel Energie durch den Spalt zu schicken, dass Amyrantha bedroht war?
Für einen langen Augenblick schien es, als hätten sie es geschafft. Stellan blinzelte in die Ferne und erwartete halb, gleich Hawkes zu sehen, wie er aus dem gähnenden Loch kletterte, das von der zertrümmerten Kammer übrig geblieben war, und er würde Warlock und Arkady hinter sich herziehen und vielleicht auch noch andere Überlebende, die er gerettet hatte.
Hawkes war so einer. Er war von der Sorte, die immer irgendwie durchkommt …
Aber aus dem Loch im Eis tauchte niemand
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