Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
eisigen Klauen eines Winters, wie man ihn seit Menschengedenken nicht erlebt hatte. Arkady hatte so ihre Vermutungen, wer dafür verantwortlich war.
»Glaubt Ihr wirklich, dass Lukys einen Weg gefunden hat, wie Cayal sterben kann?«
»Wie bei allen Gezeiten kommt Ihr darauf, dass ausgerechnet ich die Antwort auf diese Frage kennen soll?«, sagte Arkady und trat einen Schritt vom Schreibtisch zurück. Es fühlte sich so seltsam an, wieder in ihrem alten Palast zu sein, hier in Stellans privatem Schreibgemach, wo Jaxyn Aranville saß und tat, als gehörte ihm alles.
Jaxyn lächelte. »Auch wieder wahr. Ich frage mich, was sie da unten wirklich aushecken.«
»Vorschlag zur Güte, Jaxyn: Gebt Euren Raubzug nach dem glaebischen Thron auf, sagt den Krieg ab, fahrt runter nach Jelidien und fragt selber nach.«
Jaxyns Lächeln schwand. »Seid Ihr des Wahnsinns, in diesem Ton mit mir zu reden?«
»Dann bringt mich doch um. Das habt Ihr ja sowieso vor. Warum schiebt Ihr es überhaupt vor Euch her?«
Er musterte sie skeptisch. »So abgebrüht seid Ihr nicht. Ich kenne Euch doch, Arkady. Ihr wollt leben.«
»In einer Welt, wo die Gezeitenfürsten herrschen? Da dürfte der Tod die bessere Alternative sein.«
»Gezeiten, haltet Ihr uns wirklich für so schlimm?«
Arkady setzte sich Jaxyn gegenüber auf den Besucherstuhl und lehnte sich zurück, als hätte sie keine Sorgen auf der Welt. Ihr Gleichmut war natürlich gespielt, aber eines hatte Arkady im letzten Jahr gelernt: Männer – oder vielmehr Tyrannen – wie Jaxyn konnten Angst riechen. »Bis jetzt, Jaxyn, habt Ihr den vorigen König von Glaeba samt seiner Königin ermordet, den Mord meinem Gemahl angehängt und dafür gesorgt, dass ihm sein Titel aberkannt und er als Hochverräter gebrandmarkt wurde, habt Euch alles, was er besaß, unter den Nagel gerissen, unseren engsten Verbündeten den Krieg erklärt und die Vermählung Eurer Helfershelferin mit unserem jungen Thronfolger arrangiert. Und das alles in nur einem Jahr. Wie lange dauert so eine kosmische Flut? Jahrhunderte?«
»Und doch sitzt Ihr hier und wagt es, mich herauszufordern. Ihr müsst wirklich lebensmüde sein«, bemerkte Jaxyn.
Sie zog den gefleckten Fellmantel etwas enger um die Schultern, den man ihr bei ihrer Entlassung aus dem Kerker von Lebec gegeben hatte. Obwohl im Kamin ein helles Feuer brannte, war es in Stellans Schreibgemach immer noch eiskalt. »Ihr braucht mich noch, Jaxyn. Wenn schon nicht als Informantin über Cayals Pläne, dann besteht immer noch die Chance, dass Ihr mich einsetzen könnt, um Druck auf Stellan auszuüben.«
»Da würde ich mir keine allzu großen Hoffnungen machen«, warnte Jaxyn. »Euer Schicksal mag Stellan am Herzen liegen, aber ich bin ziemlich sicher, dass Syrolee und ihrer Sippschaft das Los von Stellans verschollener Gemahlin herzlich egal ist. Und es ist Syrolee, die derzeit auf der anderen Seeseite die Fäden in der Hand hält, meine Liebe. So viel ist sicher.«
Da hatte er vermutlich recht, aber Arkady mochte ihm dennoch nicht zustimmen. Sie bekam auch gar keine Gelegenheit mehr dazu, denn ein Klopfen an der Tür unterbrach ihr Gespräch, und Lady Aleena trat ins Schreibgemach. Die große, dunkelhaarige Frau war in feinste Seide gekleidet – die Kälte machte ihr schließlich nichts aus – und trug die Desean’schen Familienjuwelen, den Schmuck, der einst Arkady gehört hatte. Der Schein des Kerzenhalters, den sie trug, beleuchtete ihr Gesicht und betonte ihre fein gemeißelten Wangenknochen.
Jaxyns Verlobte beäugte Arkady einen Augenblick neugierig und sah dann zu Jaxyn hinüber. »Ich unterbreche doch kein Techtelmechtel, Liebster?«
»Aber gar nicht«, sagte Jaxyn. »Arkady und ich haben uns nur über ihre Zukunft unterhalten.«
»Ach was«, sagte Aleena. »Hat sie denn eine?«
Arkady zwang sich die Frau anzulächeln, die sich als Lady Aleena Aranville ausgab. Sie rief sich in Erinnerung, dass dieses Weib ihr Leben als Hure in einem Hafenbordell verbracht hatte, bevor sie unsterblich wurde, daher rührten vermutlich ihre Manieren – und wohl auch ihr Gelüst, jedes einzelne Schmuckstück, das Arkady je besessen hatte, alle Ringe und Armreifen gleichzeitig zu tragen.
Zugegeben, Arkady selbst hatte in letzter Zeit noch deutlich weniger moralische Festigkeit an den Tag gelegt als jede rechtschaffene Hure. Aber immerhin konnte sie sich mit dem Gedanken trösten, dass sie nur getan hatte, was sie tun musste, um zu überleben. Lyna hingegen war
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