Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
bewölkte Himmel verschleierte die untergehende Sonne, und Arkady hatte keinen genauen Anhaltspunkt, wo sie sich befand, außer dass sie irgendwo nördlich von Cycrane sein musste und nicht allzu weit vom Oberen Oran entfernt war. Sie war erst einmal im Umland der caelischen Hauptstadt gewesen, und das war Jahre her, nämlich auf ihrer Hochzeitsreise, als Stellans Aufgaben als Gesandter des Königs von Glaeba sie in offizieller Mission nach Cycrane geführt hatten. Nyahs Vater, der inzwischen verstorbene Prinzgemahl von Caelum, hatte sie auf einen Ausflug zu den Ruinen im Norden von Cycrane mitgenommen, um zu sehen, ob Arkady ihm etwas über ihre Geschichte sagen konnte. Es war ein schöner Tag gewesen, mit einem Picknick, viel Gelächter und interessanter Konversation, und sogar eine Freundschaft hatte sich angebahnt. Es war schwer zu glauben, dass die beiden Länder schon so kurze Zeit später miteinander im Krieg liegen konnten.
Sie war nicht ganz sicher, wo genau diese Ruinen gewesen waren, aber sie mussten hier irgendwo in der Nähe sein, ein Stück landeinwärts vom Seeufer. Hier draußen waren sie wahrscheinlich auch das Einzige, was halbwegs als Zuflucht taugte.
Arkady warf einen Blick zum Himmel und fragte sich, wie viel Tageslicht ihr noch blieb. Und wie die Chancen standen, einen Unterschlupf zu finden. Sie konnte eine seltsame Felszunge erkennen, die in geringer Entfernung vor ihr auf einer leichten Anhöhe in den Himmel ragte. Wenn sie noch ein Stück darauf zuging, fand sie dort vielleicht eine Zuflucht. Aber viel Spielraum blieb ihr nicht. In der kurzen Zeit, seit sie stehen geblieben war, war es bereits merklich kälter geworden, und sie zitterte nicht mehr – ein schlechtes Zeichen, wie sie wusste.
Arkady zwang sich zum Aufstehen und erstarrte, als sie ein unvertrautes Geräusch hörte. Sie lauschte angestrengt und glaubte einen Wimmerlaut zu vernehmen, der ganz anders klang als die Waldgeräusche, an die sie sich den Tag über halbwegs gewöhnt hatte.
Sie wartete, doch eine Zeit lang hörte sie gar nichts. Und dann, gerade als sie dachte, dass sie sich das Ganze nur eingebildet hatte, hörte sie es wieder.
Neugierig geworden folgte Arkady dem Geräusch. Sie wanderte noch ein Stück landeinwärts, immer dem Laut nach, der sich doch ziemlich deutlich nach einem weinenden Crasii-Welpen anhörte – auch wenn Arkady sich nicht vorstellen konnte, was ein so kleines Geschöpf allein hier draußen verloren hatte. Sie bahnte sich einen Weg durch das Unterholz, und das Weinen wurde lauter, bis sie schließlich auf einer kleinen Lichtung herauskam. Der Welpe versteckte sich dort zwischen den Wurzeln eines knorrigen Baumes. Er war kein Neugeborenes, wie Arkady beim Näherkommen erkannte. Er musste schon ein paar Monate alt sein. Mit Sicherheit alt genug, um sich auf allen vieren eigenständig fortzubewegen. Der Welpe hatte feines braunes Fell, seine riesigen braunen Augen waren weit geöffnet und aufmerksam – wenn auch voller Tränen –, und er trug einen losen Kittel, was bedeutete, dass es sich um ein Weibchen handelte. Und dass es kein wild lebendes Crasii-Kind war. Diese kleine Canide gehörte jemandem.
»Na, du Kleines«, sagte Arkady leise, als sie sich dem Welpen näherte. »Wo kommst du denn her?«
Beim Klang ihrer Stimme sah die Kleine auf. Einen Augenblick lang brach das Weinen ab, und dann begann sie noch lauter zu winseln, auf die seltsame Art, wie Canidenwelpen gleichzeitig nach Menschenbaby und Hundekind klangen.
»Na, na … ist ja schon gut«, sagte sie tröstend und ging in die Hocke, um sich den Welpen genauer anzusehen. »Ich tu dir doch nichts.«
Als Arkady die Hand nach dem Welpen ausstreckte, hörte sie ein tiefes Knurren und sah auf. Wie der Blitz kam etwas Braunes auf sie zugeschossen und sprang sie an. Bevor sie auch nur registrieren konnte, was sie da sah, wurde sie auf die Seite geworfen und etwas presste ihr die Luft aus den Lungen. Ihre Rippen schmerzhaft gegen einen gefallenen Ast gequetscht, das Gewicht einer ausgewachsenen Caniden auf sich, kämpfte sie mit allen Kräften darum, sich von der knurrenden Mutter zu befreien. So erschöpft sie auch war, sie kämpfte wie ein Dämon, denn sie wusste genau: Es gab kaum etwas Wilderes als eine Canide, die ihre Welpen schützte, und diese hier schien entschlossen, ihr die Kehle aufzureißen. Endlich, nachdem die Kreatur ihr das Gesicht zerschrammt und sie ein paarmal in den Unterarm gebissen hatte, gelang es Arkady, sie
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