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Falsche Väter - Kriminalroman

Falsche Väter - Kriminalroman

Titel: Falsche Väter - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann-Josef Schüren
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war offensichtlich, dass für ihn das Gespräch
beendet war.
    »Was ist das für ein Buch?«, fragte van de Loo.
    »Das ›Tao Te King‹«, sagte Schelling knapp. »Was Sie sehen, ist der
berühmte Spruch elf.«
    »Was besagt er?«
    »Interessiert es Sie wirklich?«
    »Berühmtheiten interessieren mich immer.«
    »Spruch elf des ›Tao Te King‹ handelt von der Angemessenheit des Nichts.«
    Schelling machte eine Kunstpause. Er ließ seine Worte wirken und
wartete gleichzeitig auf van de Loos Reaktion. Sein Blick veränderte sich. Van
de Loo war für ihn jetzt offenbar ein Schüler, jemand, der etwas wissen wollte,
jemand, der weniger wusste als er. Die Lehrerrolle, in die Schelling geschlüpft
war, das Machtgefälle des Wissens, das für ihn mit dieser Rolle einherging, gab
ihm noch mehr Sicherheit. Und die Sicherheit machte ihn mild und einfühlsam.
    »Soll ich es Ihnen erklären?«, fragte er.
    »Bitte«, sagte van de Loo.
    »Laotse behauptet, dass das Nichts, wenn es einer Sache angemessen
ist, diese erst brauchbar macht. Stellen Sie sich ein Haus vor, das nur aus
Mauern besteht. Es hat keine Fenster und Türen. Es ist eine Art Sarg und kann
nicht bewohnt werden. Erst das Nichts, also die Stellen, wo keine Mauern sind,
machen es brauchbar. Aber dieses Nichts muss richtig bemessen sein. Es möchte
ja kein Mensch in einem Glashaus leben. Und ein Turm, der nur zwei
Schießschächte hat, ist auch nicht angenehm.«
    »Verstehe«, sagte van de Loo.
    »Oder denken Sie an ein Gefäß. Eine Teeschale zum Beispiel.
Natürlich kann man einen Lehmklotz nehmen und ein winziges Loch hineinbohren.
Dann kann man vielleicht ein paar Tropfen trinken, aber das ist nicht
angemessen. Außerdem wäre die Schale zu schwer. Alles unangemessen. Auf der
anderen Seite darf eine Teeschale nicht so dünn sein, dass sie bei der
leichtesten Berührung zerbricht. Es kommt stets auf das richtige Verhältnis
an.«
    Schelling wartete auf eine Reaktion seines Schülers. Er hoffte
offenbar auf weitere Fragen, aber van de Loo schwieg.
    »Alles funktioniert nach diesem Prinzip«, fuhr Schelling fort.
»Nicht nur die Welt der Gegenstände. Es gilt im Grunde für alles. Sie können es
überall finden. In Gesprächen beispielsweise. Da sind die Pausen, die Zeiten
der Stille, das Entscheidende. Oder bei der Schrift. Haben Sie sich schon
einmal klargemacht, dass erst die Lücken zwischen den Buchstaben ein Wort
lesbar und verständlich machen?«
    »Das ist alles sehr interessant«, sagte van de Loo. »Ich werde mir
darüber Gedanken machen.«
    Er ging mit Thomas Schelling zur Tür, zog die lächerlichen
Pantoffeln und Einwegstrümpfe aus und warf die Strümpfe auf einen der Koffer.
Dann verabschiedete er sich.
    Als er auf der Straße war, wurde ihm klar, dass er eigentlich gar
nichts herausgefunden hatte. Er drehte sich noch einmal um. Die Haustür war
geschlossen. Nichts bewegte sich hinter den Gardinen. Das Haus wirkte wie tot,
und van de Loo hatte das Gefühl, dass die Bewohner tatsächlich nicht wirklich
lebten.
    »Dieses unangemessene Nichts«, murmelte er, als er in den Volvo
stieg. Es war kurz vor elf. Er hatte der Frau vom Pflegedienst versprochen, um
zehn nach elf wieder zurück zu sein. Es war nicht zu schaffen, aber versuchen
konnte er es zumindest.
    * * *
    Der Mann schaute auf seine Armbanduhr. Es war Freitag, der 17.
September. Achtzehn Uhr zweiundfünfzig. Und siebenundvierzig Sekunden.
    Er war pünktlich, überpünktlich sogar, weshalb er noch sieben
Minuten warten musste. Er betrachtete das Päckchen auf dem Beifahrersitz. Es
sah unscheinbar aus. Dabei war es verdammt wertvoll. Die Teeschale, die von
Fachleuten verpackt worden war, kostete mehr als zehntausend Euro. Der Käufer
würde bar zahlen. So war es vereinbart worden. Er hatte die private Anlieferung
verlangt. Und er hatte darauf bestanden, dass die Uhrzeit genau eingehalten
wurde. Das Geschäft würde platzen, wenn die Ware zu früh oder zu spät geliefert
wurde.
    Spinner, dachte der Mann. Diese reichen Knacker sind doch irgendwie
alle total bescheuert.
    Er sah zu dem Haus mit der Nummer 28 hinüber. Von außen wirkte es
nicht besonders auffällig, aber das besagte nichts. Bei Häusern war es wie bei
Menschen. Auf den ersten Blick schienen die meisten ganz normal, aber sobald
man sie näher kennenlernte, erlebte man böse Überraschungen. Dann kam plötzlich
die andere Seite zum Vorschein. Dann wunderte man sich, was es alles gab.
    Der Mann schaute erneut auf seine Armbanduhr.

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