Family Job
Tommy riss den Kopf zur Seite, als ihn im gleichen Moment etwas schubste und auf den Boden warf. Er streckte eine Hand aus, schnitt sich in die Handfläche, schrie auf. Drehte sich keuchend auf die Seite. Und plötzlich sah er sich jemandem gegenüber, vom dem er gedacht hatte, er würde ihn nie wiedersehen.
Er starrte in das Gesicht, dessen weiße Lippen noch weißer waren als die Wangen.
Das konnte nicht sein. Das ergab keinen Sinn.
Er senkte den Blick über die bleiche Kehle, die Brust, den Bauch zur Hüfte. Wo der Rumpf jäh endete.
»Ja, darf ich auch mitkommen?«, fragte Grant.
Tommy schlug die Augen auf. Blinzelte ins Sonnenlicht, das durch das nackte Fenster schien, erschauerte, als Schüttelfrost in Wellen seinen Körper durchlief. Das Fieber war schlimmer geworden. Er setzte sich auf dem Bett auf, versuchte von neuem das Handgelenk von der Handschelle zu befreien. Von wiederholten Versuchen waren seine Fingerspitzen wund. Es war Zeitverschwendung, aber das hielt ihn nicht ab.
Es gab ihm etwas zu tun.
Angst, Fieber und Scheißlangeweile. Eine beschissene Kombination.
Die massive Stahlkette war ungefähr eineinviertel Meterlang, wenn überhaupt. Eine Klosettkette hatte Smith sie genannt. Das eine Ende war an einem Bettpfosten am Fußende befestigt. Das andere lag um sein linkes Handgelenk. Die Kette spannte sich ein ganzes Stück vor der Tür.
Er hatte versucht, das Bett anzuheben. Er hatte versucht, es wegzuziehen. Smith war auf alles vorbereitet. Beide Beine am Fußende waren mit dem Boden vernietet, und das Kopfende war an die Wand geschraubt.
In den ersten Tagen hatte er viel Zeit damit zugebracht, zum Training um das Bett zu laufen, aber dazu tat ihm inzwischen der Arm zu weh.
Die Haustür knallte zu.
Smith war wieder da. War bestimmt wieder einkaufen gewesen. Hatte das Haus nicht oft verlassen, nur einige wenige Male, soweit Tommy wusste.
Er kam regelmäßig ins Schlafzimmer. Um Essen zu bringen. Um nach Tommy zu sehen. Um den Eimer auszuleeren. Manchmal unterhielten sie sich. Dann ging er wieder, und Tommy hörte die Dusche oder das leise Brabbeln von Stimmen aus dem Fernseher über den Flur, oder die Stimme von Smith, der leise mit jemandem telefonierte.
Schritte trampelten die Treppe hoch. Die Tür zum Flur ging auf.
Musste Zeit zum Abendessen sein.Tommy hatte keinen Hunger.
Das Knarren von Holzdielen im Flur, und die Tür zu Tommys Zimmer öffnete sich.
Smith, maskiert wie immer, hatte Tommys Katana in der einen Hand, in der anderen einen Laptop.
Tommy war nicht so dumm, zu glauben, dass er Zugang zum Internet bekommen würde, aber für eine Runde Minesweeper hätte er einen Mord begehen können. Um sich abzulenken.
Ohne ein Wort schloss Smith den Laptop unter der Kommode an. Er stand ein Stück außerhalb der Reichweite derKette. Aber der Bildschirm war groß genug, damit Tommy ihn vom Bett aus gut sehen konnte.
Smith fummelte ein bisschen herum, dann trat er zurück und sagte: »Was meinst du?«
Am Abend nachdem Smith ihn gekidnappt hatte, war Tommy gezwungen worden, einen Anruf zu machen. Das Handy war von seinem Ohr weggehalten und die Lautstärke aufgedreht worden, damit Smith mithören konnte.
Mum antwortete. Als sie merkte, dass Tommy es war, sagte sie: »Was ist passiert? Wo bist du?«
Er war nackt, in eine Decke gewickelt und saß auf einem Bett mit einer schäbigen Matratze in einem alten Haus irgendwo auf dem Land. »Mir geht’s gut«, sagte er. »Es ist nur so, dass …«, er schaute zu Smith, sah, wie seine Augen durch die Löcher der Skimaske hin und her schossen. »… da was angefallen ist.«
»Was ist passiert? Wie kann irgendwas anfallen? Da kann doch nicht einfach irgendwas ›anfallen‹. Was meinst du damit?«
»Hör zu, Mum«, sagte Tommy. »Du musst mir vertrauen.« Smith hatte ihn gewarnt, was mit seiner Mutter passieren würde, wenn sie Verdacht schöpfte. »Es ist nur so, dass ich für ’ne Weile weg muss.«
»Da stimmt doch was nicht. Was verheimlichst du mir? Ich hab mit Phil gesprochen.«
Er lebte. Gott sei Dank.
»Er hat versucht, dich zu decken«, sagte Mum. »Hat so getan, als wüsste er, wo du bist.«
Ja, Phil würde nach ihm suchen.
»Tommy?«
»Ja?«
»Wenn du mir nicht sagst, was los ist«, sagte sie, »dann ruf ich die Polizei.«
Smith hob warnend einen Finger.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte Tommy. »Pass nur auf Jordan auf, solange ich weg bin. Und mach dich drauf gefasst, ’ne Weile nichts von mir zu
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