Faszination Menschenfresser
sechs Neandertalern, die ein französisch-amerikanisches Forscherteam 1991 in der Höhle von Moula-Guercy im Rhône-Tal entdeckt hat, handelt es sich nach Ansicht ihrer Entdecker jedoch nicht um eine Begräbnisstätte, sondern um die Überreste eines 100 000 Jahre alten Festschmauses. Nach Ansicht der Wissenschaftler sind nämlich die Schnittstellen, Brüche und Schlageinwirkungen an den Knochen der Neandertaler völlig identisch mit denen, die an gleichfalls in der Höhle gefundenen Rotwildknochen festgestellt waren konnten. Der englische Anthropologe Simon Underdown von der Oxford Brookes University glaubt sogar, dass der Kannibalismus der Neandertaler möglicherweise mit dafür verantwortlich war, dass unsere frühzeitlichen Verwandten mit der flachen Stirn vor rund 30 000 Jahren ausgestorben sind. Underdown hält es für durchaus möglich, dass sich die Neandertaler beim Verzehr des Hirns ihrer Artgenossen mit einer sogenannten Prionenkrankheit infiziert haben. Ähnliches fand man beim kannibalistischen Eingeborenenstamm der Fore auf Papua-Neuguinea, dessen Angehörige noch bis vor 50 Jahren aus rituellen Gründen die Gehirne verstorbener Verwandter verspeist haben. Prionen sind Proteine, die im tierischen Organismus sowohl in normalen, aber eben auch anomalen und damit krank machenden, pathogenen Strukturen vorliegen können. Das Krankheitsbild ist durch das rasche Voranschreiten neurologischer Symptome gekennzeichnet. Dazu gehören unter anderem Gangstörungen, Muskelschwund und zunehmende Lähmungen. Prionenkrankheiten führen typischerweise innerhalb von sechs bis zwölf Monaten nach Auftreten der ersten Symptome zum Tod.
Aber die frühzeitliche Anthropophagie, wie Wissenschaftler den Kannibalismus nennen, war keineswegs auf den Neandertaler beschränkt: Bereits rund 800 000 Jahre alte Knochen von Frühmenschen der Art Homo erectus , die 1997 im nordspanischen Atapuerca nahe Burgos gefunden wurden, weisen Schnittverletzungen auf, die von spanischen Wissenschaftlern eindeutig als Beweise für kannibalistische Praktiken interpretiert wurden. Nach neuesten Erkenntnissen hatten unsere Vorfahren sogar bereits eine halbe Million Jahre früher als bisher angenommen den Hang, ihre Zeitgenossen zu verspeisen. Knochenfunde aus dem Jahr 2009 zeigen nämlich, dass es wohl bereits vor mehr als einer Million Jahren Kannibalen in Europa gegeben hat. Bei der Analyse eines 1,3 Millionen Jahre alten Oberarmknochens, der dem sogenannten Homo antecessor gehörte, einem gemeinsamen Vorfahren von Neandertaler und modernem Menschen, haben spanische Wissenschaftler Schnittspuren von primitiven Steinwerkzeugen entdeckt. Für die Wissenschaftler ein untrügliches Zeichen dafür, dass hier sogenannte Frühmenschen versucht haben, an das als Nahrungsmittel damals wohl sehr begehrte Knochenmark ihrer Artgenossen zu gelangen.
Selbst in der beschaulichen Pfalz waren einst Kannibalen zu Hause. Ausgrabungen aus dem Jahr 2006 zeigten, dass in der Nähe des südpfälzischen Städtchens Herxheim vor rund 7000 Jahren statt Saumagen mit Sauerkraut Menschenfleisch auf dem Speiseplan stand. Archäologen fanden dort bei ihren Grabungen in einer kleinen steinzeitlichen Siedlung über 500 Tote, die eindeutig wie Schlachtvieh zerlegt worden waren: Beine und Arme waren sorgfältig abgetrennt worden, hernach wurden die Rippen ausgelöst. Der Ausgrabungsleiter Bruno Boulestin geht davon aus, dass einige Tote »am Spieß gebraten und anschließend abgenagt worden seien«. Kleinere Knochen wurden von den Steinzeitbauern dagegen zerschlagen und offensichtlich zwecks Mark- und Fettgewinnung in kochendes Wasser geworfen. Das heißt, aus einigen Opfern wurde offensichtlich eine kräftige Suppe zubereitet. Unter den verspeisten Menschen befanden sich übrigens auch Säuglinge. Nach Ansicht Boulestins wurden die Opfer jedoch eindeutig nicht des Hungers wegen, sondern aus kultischen Gründen verzehrt, denn an normaler Nahrung mangelte es den Alt-Herxheimern mit Sicherheit nicht.
Ob unsere Vorfahren ihren Speisplan allerdings mit Hirn und Knochenmark und möglicherweise auch mit dem Fleisch ihrer Artgenossen aufbesserten, ist allerdings nicht unumstritten. So bezweifeln einige Wissenschaftler, dass die sogenannten Frühmenschen Kannibalismus betrieben haben, um ihren Energiebedarf zu decken, sondern vermuten, dass hinter den Schnittstellen an Schädeln und Knochen eher ein religiös motivierter Bestattungsritus steckt. Als Hauptindiz für diese These wird meist
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