Fatal - Roman
Anruf weg.
Nummer 393. Sie war vor Amy Martins Haus angekommen.
Eine Frau stand in der Einfahrt und kratzte Eis von der Windschutzscheibe eines alten schwarzen Jeeps. Sie stand mit dem Rücken zur Straße und trug eine Strickmütze der Philadelphia Eagles, einen dicken schwarzen Parka, Jeans und schwarze Gummistiefel.
Amy?
Ellen stellte den Wagen vor dem Haus ab und ging zur Einfahrt. »Entschuldigen Sie, sind Sie Ms Martin?«, fragte sie. Ihr Herz klopfte wild.
Die Frau erschrak und drehte sich um. Nein, sie war zu alt, um Amy Martin zu sein, Ende sechzig ungefähr. Ihre Augen blickten aufgebracht unter der Mütze hervor. »Mein Gott, haben Sie mir eine Angst eingejagt.«
»Entschuldigen Sie.« Ellen stellte sich vor. »Ich suche Amy Martin.«
»Amy ist meine Tochter. Sie wohnt nicht mehr hier. Ich bin Gerry.«
Ellen ordnete ihre Gedanken. Gerry Martin hatte als Zeugin Amys Einwilligungserklärung unterschrieben. Sie sah also in die Augen von Wills Großmutter. Es war die erste Blutsverwandte ihres Sohnes, die sie kennenlernte. »Sie hat mir vor drei Jahren diese Adresse gegeben. Sie sagte, dass sie hier wohnt.«
»Das sagt sie immer. Aber sie wohnt nicht hier. Trotzdem krieg ich ihre ganze Post, all diese verdammten Rechnungen. Ich werf sie alle weg.«
»Wo wohnt sie jetzt?«
»Das wissen die Götter.« Gerry kratzte wieder Eis von der Windschutzscheibe, die quietschenden Misstöne, die dabei entstanden, waren nicht zu überhören. Die schwarzen Handschuhe, die sie trug, waren ihr viel zu groß. Der rote Plastikkratzer in ihrer Hand wirkte wie ein Zwergenwerkzeug. Sie schnaubte.
»Sie wissen nicht, wo sie ist?«
»Nein.« Sie kratzte weiter. »Amy ist über achtzehn. Sie kann machen, was sie will.«
»Wissen Sie, wo sie arbeitet?«
»Wer hat denn behauptet, dass sie arbeitet?«
»Ich versuche nur, sie zu finden.«
»Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
Ellen hatte nicht damit gerechnet, dass sich Mutter und Tochter auseinandergelebt haben könnten. »Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Das ist eine Weile her.«
»Ein Jahr? Zwei?«
»Eher fünf.«
Ellen wusste, dass Gerry nicht die Wahrheit sagte. Sie hatte vor zwei Jahren die Erklärung unterschrieben. Warum log sie? »Sind Sie sicher?«
Gerry sah sie an. Die Mütze war tief in die Stirn gezogen, sodass man ihre Augen kaum sah. Sie legte den Kratzer hin. »Sie schuldet Ihnen Geld? Hab ich recht? Sie sind Geldeintreiber, Anwalt oder so was.«
»Nein.« Ellen zögerte. Wenn sie die Wahrheit hören
wollte, musste sie die Wahrheit sagen. »Ich bin die Frau, die Amys Baby adoptiert hat.«
Gerry prustete los. Ihre gelben Zähne blitzten auf.
»Was ist daran so lustig?«, fragte Ellen. Gerry wischte sich mit dem Handschuh die Augen ab.
»Du kommst besser mal mit, Mädchen.«
»Warum?«
»Wir müssen miteinander reden«, antwortete Gerry und legte ihre behandschuhte Hand auf Ellens Schulter.
26
Gerry ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Zwei alte Stehlampen, mit schwachen Glühbirnen bestückt, erhellten das Wohnzimmer kaum. Beigefarbene Vorhänge waren vor die Fenster gezogen, die Luft war stickig vom Zigarettenrauch. Neben einer zerschlissenen Couch aus Velourssamt standen zwei Hocker, die wohl als Beistelltische dienten. Drei Sessel, die nicht zueinanderpassten, standen vor einem Flachbildfernseher.
Eine Wand, die ganz mit Fotos zugepflastert war, erregte Ellens Aufmerksamkeit. Die Bilder waren zurechtgeschnitten, damit sie in die runden oder viereckigen Rahmen passten. Hochzeitsfotos und viele Schulfotos von Jungen und Mädchen waren da zu sehen. Das waren also Wills Blutsverwandte, allesamt Fremde für ihn. Und sie, die überhaupt nicht mit ihm verwandt war, wurde von ihm geliebt. Ihr vertraute er. Sie ging von Foto zu Foto, und es wurde ihr bewusst, dass sie die Teile eines Puzzles
zusammensetzen musste, um die Geschichte ihres Sohnes zu verstehen.
Welches Mädchen war wohl Amy?
Die Fotos zeigten Mädchen und Jungen in allen Altersstufen. Ellen versuchte, jedes Kind in seiner Entwicklung zu verfolgen. Sie trennte die blauäugigen von den braunäugigen, schaute, ob das Lächeln eines Babys mit dem eines Schulkindes zusammenpasste, immer auf der Suche nach Amy. Ein Mädchen hatte blondes Haar und blaue Augen, Wills helle Haut und Sommersprossen auf einer kleinen, frechen Nase.
»Der Kaffee ist fertig.« Gerry kam mit zwei Tassen aus der Küche. Sie rauchte.
»Danke.«
»Setzen Sie sich.« Gerry wies auf das Sofa,
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