Faunblut
heißen?«, fragte Jade. »Dass Jay ein Mensch ist? Das kann nicht sein! Ich habe Fänge gesehen. Und er hat mich angegriffen – und nach mir geschnappt.« Sie spürte, wie die Erinnerung sie einholte und ihr das Blut aus den Wangen wich. Ihr wurde schwindelig.
Faun schüttelte den Kopf. »Nein, kein Mensch.« Er leckte sich nervös über die Lippen, bevor er weitersprach. »Bei meinem Stamm gibt es ein Ritual. Wenn ein Kind geboren wird, rufen seine Eltern mit einem Gesang seinen Zwilling aus dem Wald herbei. Es kann Tage dauern, bis ein Tier auftaucht, das bereit ist, seine Seele mit der eines Menschen zu teilen. Sobald es erscheint und das Feuer schwarz wird, bis vor dem Nachthimmel nur noch die blaue Seele der Flammen zu sehen ist, gilt der Pakt als besiegelt. Bei mir war es Jay, der das schwarze Feuer rief. Er blieb in meiner Nähe, während ich heranwuchs. Er passte auf mich auf, er ließ einen Teil der Beute für mich zurück, nachdem er gejagt hatte.« Jade konnte die Sanftheit in seiner Stimme kaum ertragen. »Und als ich sechs Jahre alt war, verließ ich meine Familie und folgte ihm in den Wald. Es war die Zeit der dunklen Sonne. Manchmal träume ich heute noch davon.«
»Die Kinder müssen die Eltern verlassen? Um mit einem Tier zu leben?« Faun schien die Verachtung in ihrer Stimme nicht wahrzunehmen.
»Wir lernen voneinander«, erklärte er. »Wir lernen, mit dem anderen zu fühlen, zu jagen. Und wir bleiben miteinander verbunden, bis der Zwilling stirbt.«
Jade musste die Augen schließen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Er ist wahnsinnig! Oder bin ich es, die verrückt wird? Es kränkte sie, dass sie zum ersten Mal begriff, wie wenig sie tatsächlich von Faun wusste. Erst jetzt verstand sie seine Verschlossenheit, das Misstrauen und seinen Zorn, als sie ihn gefragt hatte, ob er ein Mensch war. Wie musste es sich anfühlen, an ein Tier gekettet zu sein?
»Wie kann er noch dein Bruder sein, nach dem, was er mir angetan hat?«, fragte sie nach einer Weile.
»Er kann nichts dafür. Er ist wie ein Schlafwandler«, erwiderte Faun.
»Du verteidigst ihn auch noch?«
»Wer ist schuldig? Der, der den Abzug einer Waffe drückt, oder die Waffe selbst? Jay gehorcht Tams Befehlen, so wie die Blauhäher und die anderen Wesen, die er mit seiner Stimme in seinem Bann hält. Tam hat ihn eingefangen, indem er ihn in eine Falle lockte, in einer Schlucht. Und sobald Jay seine Stimme hörte, hat er sich nicht mehr gegen das Netz gewehrt.«
»Aber du hast dich gewehrt.«
»Ja, die Narben an Tams Handgelenken stammen von mir«, erwiderte er trocken. »Ich versuchte, Jay zu befreien. Aber ich war zu schwach. Ich war erst elf Jahre alt.«
»Warum bist du nicht später mit Jay geflohen?«
»Weil er mir nicht folgen würde. Und was glaubst du, warum Tam den Käfig so gut verschließt? Ich kann ihn nicht allein lassen. Wir sind unlösbar miteinander verbunden. Aber dich würde er töten, jetzt kennt er deine Witterung. Und deshalb ist es besser, wenn wir … es beenden.«
»Du verlässt mich also wegen eines Tiers. Wegen … was? Einer Schneekatze?«
Faun verschränkte die Arme. »Du hast ihn gesehen.«
Beinahe hätte sie wieder gelacht. Für einen Moment sah sie die Fänge, die Dämonenfratze, die schwarze Haut. »Die Bestie am Fenster war also kein Echo.«
»Ich wollte einfach, dass du dich von Tam fernhältst«, erklärte Faun. »Und auch von den Echos. Und als du ihn am Fenster gesehen hast, dachte ich …«
»… es ist einfacher, mich anzulügen.« Sie lachte bitter.
Faun hob den Blick und sah sie ernst an. »Hättest du mich lieben können, wenn ich dir von ihm erzählt hätte? Oder hättest du mich so angesehen wie jetzt? Als wäre ich … selbst ein Tier?«
Zum ersten Mal erlebte sie, wie hauchfein die Grenze zwischen Liebe und Hass war. Und es war einfacher, viel einfacher, selbst zu verletzen, als den Schmerz zu spüren.
»Tier oder Sklave, wo ist der Unterschied, Faun? Du hast die Stirn, auf mich und Jakub herabzuschauen, weil wir, wie du sagst, Sklaven einer Tyrannin sind. Dabei trägst du selbst Tams Brandzeichen auf der Brust.«
Faun ballte die Hände zu Fäusten. »Verlasse die Stadt, solange noch Zeit ist«, sagte er mit mühsamer Beherrschung. »Es ist nicht dein Krieg, Jade.«
»Und es ist nicht mehr deine Angelegenheit, wohin ich gehe oder nicht«, zischte sie.
»Du gehst zu ihm, nicht wahr? Zu deinem Freund vom Boot.«
Jade nahm ihren Rucksack und ging zur Tür. Als sie schon
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