Feentod
Prozedere. Was hatten seine kryptischen Worte zu bedeuten? War er jetzt völlig durchgedreht oder einfach nur verzweifelt? Statt in weiteren Grübeleien zu versinken, konzentrierte sich Noraya auf den letzten Teil der Nachricht: Staff wollte sie treffen. Und zwar heute um 20 Uhr, beim Krankenhaus. Hingehen oder nicht hingehen, darüber musste sie entscheiden. Hatte sie überhaupt eine Wahl?
Wieder las sie die Zeilen und konnte nichts herauslesen, womit Staff ihr drohte. Seine Nachricht machte ihr weder Angst, noch fühlte sie Wut oder Hass. Im Gegenteil, bei seinen Worten verspürte sie eine tiefe Sehnsucht, ihn zu trösten. Ein Gefühl, das ihr Angst machte. Wie konnte sie so empfinden, nach allem, was geschehen war? Ich muss völlig bekloppt sein, flüsterte sie, und tippte eine Antwort: Ich werde kommen. N.
Als sie aus dem Haus ging, war ihr alles egal. Egal, ob Papa mitbekommen hatte, dass sie noch einmal wegging, egal, dass sie heute ihre Gesangsstunde verpasst hatte, egal, dass sie sich jetzt mit dem Typen traf, der sie scheinbar so beherrschte, dass sie keinen eigenen Willen mehr hatte. Noraya kam sich vor wie ferngesteuert. Wie in Trance bewegte sie sich zu ihrem Ziel. Erst als sie direkt vor dem Haupteingang des Krankenhauses stand, hielt sie inne. Gerade trat ein ganzer Pulk schnatternder Krankenpflegerinnen aus dem Gebäude. Wie eine Gänseschar drängten sie sich zum Rauchen unter dem Vordach. Es hatte gerade angefangen zu tröpfeln. Seit dem gestrigen Tag war der Himmel grau und bedeckt.
Noraya hatte nicht daran gedacht, eine regenfeste Jacke oder einen Schirm mitzunehmen. Sie schlug den Kragen ihrer grünen Jeansjacke nach oben und gab sich einen Ruck. Langsam ging sie Richtung Treffpunkt. Normalerweise war es um diese Uhrzeit taghell und so leuchteten die StraÃenlaternen noch nicht. Im schmalen Durchgang zwischen den hohen fensterlosen Wänden herrschte Dunkelheit. Noraya hörte Schritte hinter sich. Vielleicht war es Staff? Ihr Herz schlug schneller, ihre Hände wurden feucht. Die Schritte näherten sich und plötzlich, sie wollte sich gerade umdrehen, da bekam sie einen so heftigen Rempler in die Seite, dass ihr die Luft wegblieb und sie fiel. Noraya wurde schwarz vor Augen, als ihr Kopf im Sturz gegen die Wand des Gebäudes knallte.
»Noraya.«
Aus weiter Ferne hörte sie eine Stimme. Dann spürte sie eine Hand in ihrem Gesicht, die ihr leicht auf die Wange klopfte. Eine andere legte ihren Kopf auf ein Polster. Sie öffnete die Augen und schaute in dunkle Pupillen.
»Scht«, Staffs Hand strich leicht über ihre Stirn. »Nicht bewegen. Gleich kommt Hilfe.«
Sie lag am Boden, den Kopf auf seine Knie gebettet. Wie war sie hierhergekommen? Ach ja, fiel es ihr ein. Sie hatte Staff treffen wollen. Sofort begann ihr Herz, wie wild zu schlagen. Sie wollte aufspringen, doch Staff drückte ihren Kopf mit beiden Händen sanft, aber bestimmt auf seine Knie. Sie lag da wie ein Käfer auf dem Rücken. Hatte er sie etwa überwältigt? Noraya spürte, wie sich ihre Muskeln versteiften.
»Ein riesiger Dobermann hat dich angesprungen und du bist gestürzt. Die Hundebesitzerin holt Hilfe im Krankenhaus. Bis dahin bleib ganz ruhig liegen. Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung oder so was. Kannst du alles klar sehen?«
Noraya versuchte, an Staff vorbei die Decke des Durchgangs zu fixieren. Es gelang ihr. »Ja.«
»Hast du Schmerzen?«
»Keine Ahnung.«
»Bewege mal leicht deinen Kopf hin und her. Geht das?« Noraya drehte ihren Kopf. »Und jetzt deine Arme.« Noraya hob den rechten Arm Richtung Kopf. Sie spürte einen ziehenden Schmerz in der Schulter. »Autsch.«
»Auf die Schulter bist du gefallen. Ich schätze mal, eine fette Prellung.«
»Kann ich mich bitte mal aufsetzen!« Noraya wartete Staffs Antwort gar nicht erst ab, sondern stemmte die FüÃe in den Asphalt und richtete ihren Oberkörper auf.
Staff half ihr, blieb am Boden sitzen und hielt sie an der unverletzten Schulter fest. »Langsam, Noraya. Du warst ohnmächtig!«
»Wo â¦Â«, Noraya sah sich nach dem groÃen Hund um, konnte aber auÃer Staff niemanden entdecken. Hatte er sie angelogen? Ihr Herz begann, noch schneller zu schlagen, und sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Gerade überlegte sie, wie sie sich aus Staffs Griff befreien konnte, als eine junge Frau mit einem
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