Feinde der Krone
es aber auch alle anderen!«, sagte Rose voll Panik. Sie umklammerte Emilys Hände. »Dieser Gedanke wäre mir unerträglich!«
»Sie brauchen es nicht zu erfahren -«
»Aber Aubrey …«
»Ich komme mit«, versprach Emily. »Wir sagen einfach, dass wir einen Ausflug machen, und dann suchen wir den Arzt auf, der deinen Vater behandelt hat. Er wird dir nicht nur sagen, ob er geistesgestört war oder nicht, sondern kann dir für den Fall, dass es tatsächlich so gewesen sein sollte, auch sagen, ob die Sache erblich ist oder nicht. Es gibt nicht nur eine Art des Irreseins, sondern viele verschiedene.«
»Und wenn die Zeitungen dahinterkommen? Glaub mir, Emily, was sie dann schreiben würden, wäre nichts verglichen mit dem, was darin stehen würde, wenn sie wüssten, dass ich an einer Séance teilgenommen habe.«
»Dann warte einfach bis nach der Wahl.«
»Ich muss es unbedingt vorher wissen! Falls Aubrey ins Unterhaus kommt und man ihm ein Regierungsamt anbietet, zum Beispiel im Außenministerium … werde ich…« Sie brachte es nicht fertig, die schrecklichen Worte zu sagen, und verstummte.
»Dann wird es entsetzlich«, beendete Emily Roses Gedanken. »Falls es sich aber nicht so verhält, sondern die Angst dich verrückt macht, hast du all eure Aussichten für nichts und wieder nichts geopfert, und das Nichtwissen ändert an der Sache auch nichts.«
»Würdest du tatsächlich mitkommen?«, fragte Rose. Dann änderte sich ihr Gesicht, die Hoffnung schwand daraus, und es nahm wieder den trübseligen und gequälten Ausdruck an.
»Vermutlich gehst du dann hin und erzählst alles deinem Schwager bei der Polizei!« Es war eine verzweifelte Anklage.
»Nein«, gab Emily zurück. »Ich will gar nicht wissen, welche Antwort dir der Arzt gibt, und an welcher Krankheit dein Vater gestorben ist, geht die Polizei nicht das Geringste an – es sei denn, sie hat dich dazu gebracht, Maude Lamont zu töten, weil sie davon wusste.«
»Ich war es nicht! Ich … ich hatte überhaupt keine Gelegenheit, den Geist meiner Mutter zu fragen.«
Überwältigt von Elend, Angst und dem Gefühl der Peinlichkeit vergrub sie den Kopf erneut in den Händen.
Die herrliche Stimme der Sängerin ertönte wieder aus dem Nebenraum. Emily merkte, dass sie allein waren. Nur am anderen Ende des Raumes nahe der Tür zum Vestibül führten etwa ein Dutzend Männer eine ernste Unterhaltung. »Komm«, sagte sie entschlossen. »Wasch dir das Gesicht mit kaltem Wasser, trink im Esszimmer eine Tasse heißen Tee, und dann gehen wir wieder zu den anderen. Wir könnten ihnen erklären, dass wir ein Gartenfest oder dergleichen planen … um Geld für einen wohltätigen Zweck zu sammeln. Wir sollten aber unbedingt dieselbe Geschichte erzählen. Komm jetzt!«
Schwerfällig erhob sich Rose, straffte die Schultern und folgte Emily.
Kapitel 10
P itt und Tellman suchten das Haus in der Southampton Row noch einmal auf. Pitt hatte immer mehr das Gefühl, dass er jedes Mal beobachtet wurde, wenn er in die Keppel Street kam oder sie verließ, doch hatte er außer dem Postboten und dem Milchmann, der gewöhnlich mit seinem Karren an der Ecke des Gässchens stand, das von dort zum Montague Place führte, nie jemanden gesehen.
Von Charlotte hatte er zwei kurze Briefe bekommen, in denen sie mitteilte, dass alles in Ordnung sei und sie sich äußerst wohl fühlten, davon abgesehen, dass er ihnen sehr fehle. Keiner der Briefe trug einen Absender. Er hatte ihr mehrfach geschrieben und darauf geachtet, die Briefe weit von seiner Wohnung entfernt einzuwerfen, so dass der neugierige Postbote sie auf keinen Fall zu sehen bekam.
Das Haus in der Southampton Row machte in der Hitze des stillen Sommervormittags einen friedlichen Eindruck. Wie immer trugen pfeifende Jungen Botschaften durch die Straßen oder brachten Fisch, Geflügel und sonstige Einkäufe zu den Häusern. Einer von ihnen rief einem Dienstmädchen, das eine Katze vom Hauseingang verscheuchte, ein freches Kompliment zu. Sie schimpfte mit ihm, kicherte aber dabei.
»Verschwinde, Taugenichts! Von wegen Blumen!«
»Veilchen!«, rief er ihr nach und wedelte mit den Armen.
Im Inneren des Hauses allerdings sah es anders aus. Die Vorhänge waren halb zugezogen, wie es sich bei einem Todesfall gehörte.
Im Salon, in dem man Maude Lamont getötet hatte, war offenbar nichts angetastet worden. Lena Forrest, die beide Männer mit angemessener Höflichkeit empfing, wirkte nach wie vor erschöpft und angespannter als
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