Feinde der Krone
Jetzt hatte er beide vor sich.
»Lady Vespasia«, sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit. »Das nenne ich wahre Freundestreue, dass sie in einer so schweren Zeit öffentlich mit Mister Pitt zum Lunch gehen. Ich bewundere Treue, und je teurer sie zu stehen kommt, desto höher ist ihr Wert.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, wandte er sich an Pitt. »Vielleicht können Sie ja eine Stellung außerhalb Londons finden. Das würde ich Ihnen nach Ihrem ungeschickten Verhalten dem armen Francis Wray gegenüber unbedingt raten. Vielleicht irgendwo auf dem Lande? Falls es Ihrer Frau und den Kindern in Dartmoor gefällt, möglicherweise sogar dort? Allerdings ist Harford so klein, dass man da keinen Polizeibeamten braucht. Es ist kaum ein Dorf, eher ein Weiler, ein, zwei Straßen, ganz abgelegen am Rande der Heide. Ich bezweifle, dass dort je ein Verbrechen vorgefallen ist, von Mord
ganz zu schweigen. Sie hatten sich doch auf Mord spezialisiert, nicht wahr? Nun ja, vielleicht ändert sich das ja.« Er lächelte, nickte Vespasia zu und ging dann weiter.
Pitt war wie vom Donner gerührt. Ein kalter Schauer nach dem anderen jagte ihm über den Rücken und ließ ihn bis ins Innerste erstarren. Er war sich des Raumes um ihn herum kaum bewusst, spürte nicht einmal Vespasias Hand auf seinem Arm. Voisey wusste, wo sich Charlotte aufhielt! Er konnte jederzeit zuschlagen. Pitts Herz krampfte sich zusammen. Er bekam kaum Luft. Dann hörte er Vespasias Stimme wie von weither.
»Thomas!«
Die Zeit hatte jede Bedeutung verloren.
»Thomas!« Sie umklammerte seinen Arm so fest, dass sich ihre Finger ins Fleisch gruben. Sie sagte seinen Namen ein drittes Mal.
»Ja …«
»Wir müssen gehen«, sagte sie fest. »Man wird auf uns aufmerksam.«
»Er weiß, wo sich Charlotte aufhält!« Er wandte sich ihr zu. »Ich muss sie da wegbringen! Ich muss –«
»Nein.« Sie hielt ihn mit aller Kraft fest. »Du musst hierbleiben und gegen Charles Voisey kämpfen. Solange du in London bist, wird er seine Aufmerksamkeit nicht von hier abwenden. Schick den jungen Mann hin, diesen Tellman. Er kann Charlotte und die Kinder so unauffällig wie möglich woanders hinbringen. Voisey muss sich darum kümmern, die Wahl zu gewinnen und außerdem deine Bemühungen abwehren, die Wahrheit in Bezug auf Francis Wrays Tod zu ermitteln. Er muss dich im Augen behalten, um zu sehen, was du über den Mann in Erfahrung bringst, der sich hinter der Kartusche verbirgt. Sofern tatsächlich eine Verbindung zwischen Voisey und Maude Lamonts Tod besteht, kann er es sich auf keinen Fall leisten, einen anderen mit dieser Aufgabe zu betrauen. Wie du weißt, wird er unter keinen Umständen dulden, dass jemand die ganze Wahrheit über ihn erfährt.«
Als Pitt wieder klar denken konnte und sich der Wirklichkeit stellte, musste er sich eingestehen, dass sie Recht hatte.
Doch es galt keine Zeit zu verlieren. Er musste sofort feststellen, wo sich Tellman aufhielt, und dafür sorgen, dass er nach Devon fuhr. Während ihm das durch den Kopf ging, fuhr er unwillkürlich mit der Hand in die Tasche, um zu sehen, wie viel Geld er bei sich hatte. Auf jeden Fall musste er Tellman genug für die Hin- und Rückfahrt mit der Bahn geben. Außerdem brauchte Tellman Geld, um Pitts Angehörige an einen anderen Ort zu schaffen, wo er eine neue, sichere Unterkunft für sie finden musste. Nach London konnten sie noch nicht zurückkehren. Wann das so weit sein würde, wusste Pitt nicht. Es war unmöglich, so weit im Voraus zu planen oder sich zu überlegen, wie er dafür sorgen konnte, dass sie auch in London in Sicherheit waren.
Vespasia deutete seine Handbewegung richtig. Sie öffnete ihren Pompadour und nahm alles Geld heraus, das sie bei sich trug. Verblüfft sah er, wie viel es war – annähernd zwanzig Pfund. Zusammen mit den vier Pfund, siebzehn Shilling und einigen Pennies, die er hatte, würde das genügen.
Wortlos gab sie ihm das Geld.
»Danke«, sagte er. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, seinen Stolz hervorzukehren oder eine Dankesschuld als Bürde zu empfinden. Sicher war ihr klar, dass er sich ihr tiefer verpflichtet fühlte, als er sagen konnte.
»Meine Kutsche«, sagte sie. »Wir müssen Tellman finden.«
»Wir?«
»Mein lieber Thomas, du wirst mich ja wohl nicht mittellos hier im Savoy stehen lassen und erwarten, dass ich mich allein nach Hause durchschlage, während du dich weiter um unseren Fall kümmerst!«
»Aber nein. Möchtest du nicht …«
»Nein«, sagte sie
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