Feindfahrt
schneller vorankommen als jetzt.«
»Soll ich einen Wind herbeirufen?« fragte sie. »So einen rich tig schönen Wind?«
»Danke, nicht nötig.« Er blickte zum Nachthimmel empor. »Ich glaube, dies ist nur eine vorübergehende Kalme. Wir wer den noch vor morgen früh Sturm kriegen.«
Hinter ihnen bewegte sich etwas. Als sie sich umdrehten, sahen sie Schwester Angela am Großmast stehen.
»Herr Richter - Maria«, grüßte sie ruhig. »Eine wunderschöne Nacht.« Es war Maria, die sich zuerst wieder faßte; instinktiv versuchte sie, Richter zu beschützen. »Es war meine Schuld, Schwester Angela - bitte, glauben Sie mir. Herr Richter kann nichts dafür.«
»Das ist mir durchaus klar, mein Kind. Ich stehe hier schon seit fünf Minuten. Aber ich finde, Sie sollten jetzt trotzdem hinun tergehen.« Zunächst zögerte Maria noch, dann ging sie wider willig zum Niedergang. Als sie ihn fast erreicht hatte, fügte Schwester Angela noch hinzu: »Ich bin überzeugt, daß sich Herr Richter morgen gern wieder mit Ihnen unterhalten wird, falls es seine Pflichten erlauben.« Maria hielt den Atem an und blieb eine Sekunde lang stehen; dann stieg sie hastig den Nie dergang hinunter.
»Darf ich Ihren Worten entnehmen, daß ich tatsächlich Ihre Erlaubnis habe...« begann der Bootsmann.
»...Maria den Hof zu machen, Herr Richter?« Sie lächelte ein wenig. »Wie alt ich mich auf einmal fühle!«
Sie wandte sich ab und ging auf die Tür von Bergers Kajüte zu. Richter sah irritiert zu, wie sie anklopfte und eintrat.
Berger saß an seinem Schreibtisch und arbeitete. Otto Prager lag lesend auf der Koje. Er richtete sich auf und schwang die Füße vom Bett, während Berger den Füllhalter hinlegte. »Ja, Schwester?« fragte er höflich. Prager stand auf. »Soll ich hinausgehen?«
Er wollte zur Tür, doch sie schüttelte den Kopf. »Ich will Ihre
Zeit nicht lange in Anspruch nehmen, Herr Kapitän. Aber es
geht um Herrn Richter und Maria.«
»Nun?« Berger war auf alles gefaßt.
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ihn von seinem Versprechen, sich von ihr fernzuhalten, bis wir in Kiel sind, entbinden würden.«
»Eine erstaunliche Sinnesänderung Ihrerseits, finden Sie nicht?«
»Eine neue Perspektive, das mag sein. Ich wollte immer nur das, was für Maria gut und richtig ist. Über ihre Zukunft jedoch muß sie in Kiel aus eigenem freien Willen entscheiden, ohne daß sie von jemandem beeinflußt wird. Soviel ist mir jetzt klar geworden. Und bis dahin scheint es mir sinnlos zu sein, sie und Richter so streng zu trennen. Soweit ich bisher feststellen konnte, ist er ein außergewöhnlich ehrenhafter junger Mann.«
Erich Berger fehlten die Worte zu einer Entgegnung. Schwe ster Angela wartete einen Moment, dann sagte sie abschlie ßend: »Und nun müssen die Herren mich bitte entschuldigen. Ich bin sehr müde.« Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Zutiefst verwundert drehte sich der Konsul um. Berger öffnete wortlos den Schrank, um die Rumflasche mit zwei Gläsern herauszuho len.
Der Zug raste durch die stockdunkle Nacht. Harry Jago klopfte an die Tür des Schlafwagenabteils und trat ein. Janet lag im Bett und hatte die Decke bis ans Kinn gezogen . »Ich friere.« »Dagegen wüßte ich ein probates Mittel«, entgegnete er mun ter. »Nein, heute nicht, Liebling. Ich bin erledigt. Ich könnte eine ganze Woche schlafen. Du mußt dich mit dem Fußboden und einer Wolldecke begnügen.«
Jago zuckte schicksalsergeben die Achseln. »Okay«, sagte er. »Da hinten schlafen sie sogar in den Gepäcknetzen.« Er zog die Schuhe aus, wickelte sich in eine Decke, legte sich auf den Fußboden , den Kopf auf seine Segeltuchtasche gebettet , und schlief fast augenblicklich ein.
Um sechs Uhr dreißig, im Licht eines grauen, trüben Morgens, trafen sie in Glasgow ein. Janet hatte sehr schlecht geschlafen und beim Erwachen feststellen müssen, daß Jago bereits ausge flogen war. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar denken konnte und merkte, daß der Zug hielt. Als sie die Decke beisei te schlug und sich aufrichtete, klopfte es; Jago steckte den Kopf zur Tür herein. »Ah, wieder unter den Lebenden«, stellte er fest. »Das ist gut.«
Er reichte ihr eine Thermosflasche. »Kaffee. Wir sind übrigens
in Glasgow. Offenbar wird hier die Hälfte der Waggons abge
koppelt.«
»Und was kommt dann?«
»In ungefähr zehn Minuten fahren wir weiter. Bridge of Orchy. Rannoch, Fort William und Mallaig. Fünf Stunden noch, wenn alles gutgeht. Ich
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