Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
man Segel bedient. Deine Aufgabe ist es, die Schot an den Klampen – das sind diese Dinger hier – zu befestigen, so wie du es bei der Regatta gemacht hast. Der Wind bläst landeinwärts; darum müssen wir erst einmal kreuzen, das heißt, wir wenden immer wieder, bis wir aus der Bucht draußen sind. Der Rest der Fahrt die Küste entlang und wieder zurück ist dann ganz einfach.«
Felicity nickte. Wenden konnte sie schon, das hatten sie bei der Regatta oft genug gemacht.
»Also, dann rein mit dir«, sagte Henry. »Jetzt geht’s los.«
»Du hast den Bogen schnell raus.« Henry klang etwas überrascht. Es wehte eine steife Brise und sie fuhren ein flottes Tempo, aber Felicity machte das überhaupt nichts aus.
»Es macht Spaß«, antwortete sie. Beide lehnten sich weit aus dem Boot hinaus, damit es nicht so stark krängte. Wie schon bei der Regatta hatte Felicity wieder dieses großartige Gefühl, ganz in ihrem Element zu sein – sie konnte ihr Glück kaum fassen. Die Luft war frisch und schneidend, die grünen Wellen glitzerten und der Himmel war lebhaft blau. Felicity atmete tief ein und strahlte.
»Da ist die Soul Bay.« Henry und zeigte zum Land hin.
»Miranda Blake hat sie neulich erwähnt«, sagte Felicity. »Sie meinte, die Tempest Bay liegt gleich daneben.«
Henry nickte. »Ja, hinter der nächsten Landspitze. Aber so weit fahren wir heute nicht. Die Schiffe der Gentry haben sich oft in die Soul Bay geflüchtet, wenn die Zöllner hinter ihnen her waren.«
»Wirklich?« Felicity horchte gespannt auf.
»Ja, es gibt nämlich nur eine schmale Fahrrinne, durch die man zur Küste gelangt, und die kannten nur die Schmuggler. Wenn sie verfolgt wurden, fuhren sie hierher, und die Zöllner mussten die Jagd abbrechen.«
»Wieso?«, fragte Felicity.
»Weil das Wasser vor der Bucht zu seicht und voller Riffe ist, die jedes Schiff aufschlitzen, das sich da reinwagt«, erklärte Henry. »Die Leute von der Küstenwache mussten hilflos von draußen zusehen, wie die Schmuggler ihre Ladung an Land schafften – sie konnten nichts dagegen tun.«
»Und warum haben sie nicht an Land gewartet?«
»Das ist Privatbesitz«, sagte Henry. »Sie mussten sich erst eine richterliche Verfügung besorgen, und wenn die dann endlich vorlag, war alles schon vorbei. Und außerdem kamen sie nie wirklich dahinter, wie das Tunnelsystem funktionierte.«
»Ich habe inzwischen einiges über Rafe Gallant rausgefunden.« Irgendwie hatte Felicity das Gefühl, dass es nicht passte, ihn Großvater zu nennen. »In der Bibliothek«, fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.
»Ehrlich?« Henry grinste. »In der Bibliothek! Na klar, wo sonst? Du bist echt ein Bücherwurm!«
Sie ging nicht darauf ein. »In einem der Bücher stand, dass mein Vater eine Schwester hat. Ich habe eine Tante, ist das nicht toll!«
Henry kaute an seiner Unterlippe. »Ihr Name ist Ruby, oder?«
Felicity blickte auf. »Ja. Kennst du sie?«
»Na ja …« Henry war sichtlich unwohl zumute. »Sie ist mit zwölf bei einem Segelunfall ums Leben gekommen. Die Geschichte ist berühmt, komisch, dass du nie was davon gehört hast. Dein Vater war damals noch ganz klein. Und das Unglück hat deinen Großvater schwer getroffen.«
Felicity schwieg. Armer Papa. Ob er damals wohl bewusst mitbekommen hatte, was passiert war?
»Am besten werfen wir hier Anker«, sagte Henry, der das Thema wechseln wollte. Er drehte bei, die Jolle verlor an Fahrt. »Es ist riskant, da reinzufahren: Das ist eine Leeküste.«
Felicity sah ihn fragend an.
»Der Wind weht landeinwärts«, erklärte er, »darum ist es schwierig, aus der Bucht wieder rauszukommen. Für die Strandräuber war das natürlich ideal: Wenn es ihnen gelungen war, ein Schiff zwischen die Riffe zu locken, hatte es kaum noch eine Chance, wieder aufs offene Meer zu entkommen.«
»Hat das Boot eigentlich einen Namen?«, fragte Felicity, während Henry den kleinen Klappanker ins Wasser ließ.
Er lächelte. »Ja. Es heißt Ehrliche Armut .«
»Komischer Name«, sagte Felicity.
»Hmm, ja, aber, weißt du, das war eine Spitze gegen die Gentry. Nachdem mein Großvater mit denen gebrochen hatte, haben sie alles versucht, um ihn in den Ruin zu treiben. Wahrscheinlich dachten sie, wenn er nicht mehr weiß, wie er seine Familie ernähren soll, würde er zu ihnen zurückkommen. Aber mein Großvater blieb hart, sogar als wir unseren Fischkutter verloren hatten. ›Besser arm und ehrlich als ein reicher Verbrecher‹, sagte er immer. Und
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